Lückenloser Außengrenzschutz gilt vielen EU-Regierungen als das probateste Mittel zur Abwehr irregulärer Migration. Gerade jetzt ist eine Diskussion um die bulgarische Grenze zur Türkei wieder aufgeflammt. Ein Lokalaugenschein der Autorin letzten Sommer entlang der Balkanroute ergab, dass es sich dabei um eine teure Maßnahme handelt, die ihren Zweck nicht erfüllt, jedoch viele höchst gefährliche Nebenwirkungen zeitigt.

Grenzzaun Bulgarien EU-Außengrenze
Abgeschottet? Stacheldrahtzaun und Polizeipatrouillen an der EU-Außengrenze in Bulgarien.
Foto: AFP / Nikolay Doychinov

Interviews mit 220 Personen, die auf irreguläre Weise über die Balkanroute migrierten, ergaben ein ziemlich einheitliches Bild. Der Außengrenzschutz ist sehr eng, die Mehrheit der illegalen Grenzübertritte wird von der Grenzpolizei aufgespürt, insbesondere an der bulgarischen EU-Außengrenze. Von allen interviewten Personen, welche über Bulgarien kamen, hat nur eine behauptet, sie wäre gleich beim ersten Versuch über die Grenze gekommen. Alle anderen wurden im Schnitt ein halbes Dutzend Mal aufgegriffen, bis es ihnen gelang, die Grenze zu überwinden. An der griechisch-türkischen Seegrenze und an der kroatisch-bosnischen Landgrenze sind die Chancen, unentdeckt einzureisen, etwas höher, doch auch hier hatte die überwiegende Mehrheit der Migrierenden mehrere gescheiterte Einreiseversuche hinter sich, bevor sie durchkamen.

"Von Syrien aus sind es 2600 Kilometer. Am Ziel, also an der EU-Außengrenze, gibt keiner auf."

Das zeigt zwei Dinge: erstens, dass der Außengrenzschutz relativ gut funktioniert, und zweitens, dass die Maßnahmen die Menschen nicht abschreckten. Nur EU-Politikerinnen und -Politiker sehen die Außengrenzen als den Beginn der irregulären Migration nach Europa. In der Realität der Betroffenen ist es der Zieldurchlauf. Wer beispielsweise aus Afghanistan kommt, hat bis zur Außengrenze schon 5600 Kilometer zurückgelegt, vieles davon unter großen Gefahren und zu Fuß. Aus Syrien kommend sind es 2600 Kilometer. Am Ziel, also an der EU-Außengrenze, gibt keiner auf. Einer der interviewten Männer hatte zum Zeitpunkt des Gesprächs schon 19 illegale Pushbacks erlebt und bereitete sich gerade auf den 20. Einreiseversuch in die EU vor.

Riesige Herausforderung

Die EU sowie alle Mitgliedsstaaten haben in den vergangenen Jahren immense Summen in den Außengrenzschutz investiert. Die EU hat Seegrenzen, die länger sind als der Äquator, und rund 7000 Kilometer Landgrenze, über Berge, durch Wälder und Flüsse verlaufend. Rein technisch ist der Grenzschutz also eine riesige Herausforderung. Die EU-Grenzschutzagentur Frontex hat ihr Budget seit ihrer Gründung von sechs auf 845 Millionen Euro erhöht, also mehr als das 140-fache. Dazu kommen umfangreiche nationale Investitionen in Grenzzäune, Drohnen, Nachtsichtgeräte, Bewegungsmelder, Kamerasysteme und vieles mehr. Gleichzeitig stieg die Zahl der irregulär einreisenden Personen in Europa kontinuierlich an. Die erwünschte Wirkung einer rigiden Abschottung bleibt also aus. Worüber in der europäischen Politik nie gesprochen wird, sind die unerwünschten Nebenwirkungen, die da lauten: Missachtung von Gesetzen, Brutalität, Korruption und Stärkung der organisierten Kriminalität. Eigentlich hat jede Person, die in Europa Schutz sucht, Anspruch auf eine Prüfung ihres Ansuchens durch eine Asylbehörde. An den EU-Außengrenzen auf dem Balkan wird das systematisch ignoriert.

Aufgegriffene Personen werden von der Grenzpolizei misshandelt, bestohlen, manchmal entkleidet und ohne irgendeine offizielle Dokumentation zurückgeschoben. Diese illegalen Pushbacks sind entgegen allen Beteuerungen aus Brüssel, Athen, Sofia und Zagreb die Regel, nicht die Ausnahme.

Solange sich die Polizei an Migrierenden vergreift, wird es billigend in Kauf genommen. Aber was bedeutet es, wenn sich in EU-Mitgliedsstaaten bewaffnete uniformierte Kräfte heranbilden, die gelernt haben, dass sie Gesetze ignorieren dürfen, dass sie ungestraft wehrlose Zivilistinnen und Zivilisten verprügeln, ihnen Geld und Handys wegnehmen und selbst einstecken können? Was, wenn solche Polizistinnen und Polizisten auf die eigene Bevölkerung losgelassen werden? Tolerieren wir das dann auch?

Vernetzte Banden

Weil die Profite steigen, blüht auf der Balkanroute die Schlepperkriminalität. Und nein, es geht nicht um den Fahrer, der von der Polizei aufgegriffen und vor Gericht gestellt wird. Es geht um international vernetzte Banden, die inzwischen auf dem Balkan relativ ungestört ihr Geschäft betreiben. Sie schmieren Grenzbeamte, foltern Migrantinnen und Migranten, die nicht zahlen können, und bedrohen deren Familien zu Hause. Vor Ort liefern sie sich mit konkurrierenden Banden oder Sicherheitskräften Kämpfe mit Maschinengewehren. Von der Balkan-Rechercheplattform BIRN ist der wachsende Wirkungskreis dieser mafiösen Strukturen gut dokumentiert. In westlichen Medien findet das aber kaum Niederschlag.

Natürlich soll es Außengrenzschutz geben, das ist ein souveränes Recht eines jeden Staates. Aber es ist keine geeignete Einzelmaßnahme, um die irreguläre Migration zu bekämpfen. Warum man trotzdem ein so komplexes Problem seit Jahrzehnten mit ein und demselben wirkungslosen Instrument zu lösen sucht und die Konsequenzen ignoriert, bleibt unverständlich. (Melita H. Šunjic, 10.12.2023)