Es ist eine Reihe verschiedener Entwicklungen, die die Virulenz der Asyl- und Migrationsthematik in letzter Zeit wieder erheblich gesteigert haben. In Den Haag geht nach dem Wahlerfolg von Geert Wilders die Sorge um eine Machtübernahme durch eine spezifisch niederländische Form des politischen Extremismus um. Italien hat bereits eine neofaschistische Premierministerin. In Österreich liegt die Kickl-FPÖ stabil in Führung, auch hier spielt die Asyl- und Migrationsthematik eine wesentliche Rolle. Das EU-Migrationsabkommen mit Tunesien ist indes de facto gescheitert, Italien ist mit einem eigenen Deal mit Albanien ausgeschert.

Aneinandergereihte Boote aus Holz
Stille Zeugen einer gefährlichen Überfahrt: Holzboote im Hafen von Arinaga auf der spanischen Insel Gran Canaria.
Foto: AFP / Desiree Martin

In dieser chaotischen und durch mangelhafte europäische Koordinierung gekennzeichneten Situation scheint das britische und dänische Modell einer Exterritorialisierung des Asylsystems (Ruanda-Modell) vor einer grundlegenderen Neubewertung zu stehen. Liberale Experten wie Gerald Knaus fordern Pilotprojekte in diese Richtung, der Berliner Migrationsforscher Ruud Koopmans unterstützt die Pläne seit längerem. Sebastian Kurz hatte bereits 2016 die Idee ventiliert, Asylverfahren nur mehr in "Asyl- und Migrationszentren" in einem afrikanischen Drittstaat zuzulassen. Im Gegenzug sollten legale Migrationsmöglichkeiten erweitert und die "Hilfe vor Ort" ausgebaut werden. Der Diskussionsfortschritt seither kann nur als bescheiden bezeichnet werden.

Beispiel Australien

Während der Alte Kontinent nicht vom Fleck kommt, liefert Australien das Gegenbeispiel hoch initiativer und vorausschauender Politik. Australien hat entschlossen reagiert, rechtzeitig mit Drittstaaten verhandelt, die Todesrate auf der Seepassage auf null gesenkt und spezielle Rettungsboote angekauft, um zurückgedrängten Migrierenden ausreichend Sicherheit zu bieten. Europa dagegen hat das Problem so lange Italien umgehängt, bis der damalige Innenminister Matteo Salvini ohne jede Vorbereitung die Häfen schloss; in der Folge verdoppelte sich die Zahl der Ertrunkenen.

Andere Problemzonen

Dass Europa in einer schwierigeren Situation ist als ein Kontinent am anderen Ende der Welt ohne Landverbindung mit politischen Problemzonen, bedarf keiner umständlichen Beweisführung. Aber die europäische Tristesse hat zusätzliche Gründe: die grundsätzliche Schwierigkeit transnationaler Politik vor dem Hintergrund unterschiedlicher Interessen, die hohe Rechtskultur samt eigenem Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch die Art der Debattenführung. Während migrations- und asylpolitische Debatten in Europa stark ideologiegetrieben geführt werden, regiert in den angelsächsischen Einwanderungsländern eine pragmatische Grundhaltung: problems are to be solved.

Dazu kommt ein grundsätzlich anderer Angelpunkt der Diskussion. Australien ist von der Struktur des Problems ausgegangen und hat von dieser Basis aus nach Lösungen gesucht. Irreguläre Migration ist dann attraktiv, wenn sie mit einer Bleibeerwartung verbunden ist, für die sich die Kosten und Risiken der Überfahrt lohnen, und sie wird dann sinken und sich auf nahe null reduzieren lassen, wenn eine solche Chance gar nicht erst besteht. Die australische Politik wurde daher konsequent unter die Devise "You won’t make Australia home" gestellt. Irreguläre Migrierende wurden bereits auf hoher See zurückgedrängt oder in Drittstaaten gebracht, eine Asyloption wurde ausgeschlossen.

Politische Tragödie

Europäische Diskussionen haben andere Bezugspunkte. Gemäßigte, progressive und liberale Kräfte wählen den europäischen Rechtsbestand als Ausgangsbasis. Dass sich die Probleme so vielleicht gar nicht lösen lassen, ist mit einem Tabu belegt – es sei denn, und hier beginnt die eigentliche politische Tragödie, die Analyse stammt aus dem rechten politischen Eck. Rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien empfinden keinerlei Scheu, Probleme offen und lautstark anzusprechen, und sie gaukeln damit eine Initiative vor, die Wählerinnen und Wähler gemäßigter Parteien in der europäischen Lethargie vermissen. Hier hat sich längst eine fatale Grundstimmung breitgemacht: Nichts geht mehr.

In dieser Situation sind die gemäßigten und liberalen Kräfte gefordert, sich in einen offenen und entideologisierten Diskurs einzubringen, der viel zu lange der politischen Rechten überlassen wurde – in Deutschland ist vor allem die AfD als entschlossene Fürsprecherin der australischen Exterritorialisierung aufgetreten. Im Fall des Ruanda-Modells oder der australischen Lösung, die die Blaupause liefert, müssen die positiven Aspekte in den Vordergrund gerückt werden, die die linke und liberale Diskussion bisher konsequent ausgeblendet hat. Denn während Australien mit einer harten Politik auf jene reagiert, die sich irregulär auf den Weg machen, ist die australische Politik humanitär durchaus engagiert. Asyl wird mit Resettlements und humanitären Visa gewährt, und damit auf geordnete und planbare Weise, die auch die Sicherheitsbedürfnisse des Ziellandes berücksichtigt.

Tatsächlich liegt die Zahl der 17.500 Asylberechtigten, die in Australien im letzten Fiskaljahr humanitäre Aufnahme gefunden haben, nicht wesentlich unter jenen etwa 21.000 Resettlementplätzen, die 2022 in der gesamten EU vergeben wurden. Diese Zahlen liegen deshalb so niedrig, weil das dysfunktionale europäische Asylsystem alternative humanitäre Schutzmöglichkeiten blockiert.

Humanitäre Hilfe

Wenn wir Schutzsuchende dorthin transferieren können, wo tatsächlicher Schutz geboten wird – und das muss nicht Europa sein –, können wir mehr Schutz für jene argumentieren, die ihn ebenso benötigen, aber nicht über die Mittel, die Gesundheit und das Glück geografischer Nähe verfügen.

Europa kann seinen humanitären Anspruch wahren, wenn die Härten des australischen Modells abgemildert werden – das betrifft vor allem die mitunter unmenschliche Behandlung in den Lagern. Eine Internierung, in Australien ein Element zusätzlicher Abschreckung, ist nicht notwendig, wenn eine prohibitive Distanz an der Wiedereinreise hindert. Die wesentliche Differenz zwischen linker, liberaler und rechter Politik besteht in der grundsätzlichen Bereitschaft zu humanitärer Hilfe. Aber die Zeit läuft ab, um praktische Lösungen zu entwerfen und sie in den politischen Diskurs einzubringen. (Christoph Landerer, 9.12.2023)