Ausschnitt aus einem Schulzeugnis
Wenn aus Ziffern Noten werden, spielen subjektive "Beurteilungstendenzen" mit hinein – und das macht die Sache auch ungerecht.
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Das neue Pisa-Zeugnis ist da. Es enthält keine Ziffernnoten, sondern misst Kompetenzen in Punkten. In der Schule aber wird noch immer mit 1 bis 5 bewertet. Die SPÖ Wien forderte unlängst ein Aus für Noten für Kinder bis 14 Jahre und sorgte so für einen bildungspolitischen Schlagabtausch. Herbert Altrichter forscht schon lang auch zu diesem Teilaspekt von Schule.

STANDARD: Was muss man bei einer differenzierten Diskussion über Schulnoten beachten? Irgendwie muss man Leistung ja nachvollziehbar machen.

Altrichter: Zunächst muss man sich bewusst machen, was beim Notengeben geschieht. Unsere Rechtsordnung unterscheidet klugerweise zwischen Leistungsfeststellung und Leistungsbeurteilung. Bei der Leistungsfeststellung werden auf unterschiedliche Art – Prüfung, Schularbeit, Standardisierter Test, laufende Beobachtung der Mitarbeit usw. – lernzielbezogene Schülerhandlungen beobachtet und festgehalten. Das kann man unterschiedlich gestalten: Eine Prüfung kann kalt und stressig sein, aber wir erinnern uns genauso an Lehrpersonen, die sich bemühten, das Letzte an Wissen aus Prüflingen herauszukitzeln. Und wir wissen, dass Prüfungsformen manchen liegen, anderen nicht.

STANDARD: Und wie kann man Leistung in der Schule am besten, natürlich gerecht und vergleichbar messen?

Altrichter: Die Abwechslung unterschiedlicher Prüfungsformen ist unabdingbar. Man soll Einseitigkeiten vermeiden und Leistungsfeststellung, wo es geht, zur Förderung des Lernens nutzen. Sogenannte formative Leistungsfeststellung gilt international als wichtiger Weg der Lernförderung. Leistungsfeststellungen können selbst lernförderlich sein, wenn sie nicht als abschließendes Urteil, sondern als differenzierte Rückmeldung in einer Zwischenstufe eines Prozesses, bei dem sich weitere Anstrengung lohnt, empfunden werden. Ein gut untersuchtes Ergebnis der Unterrichtsforschung ist etwa, dass Schülerinnen und Schüler nach einer Probeschularbeit mehr Energien in weitere Lernprozesse stecken und bessere Leistungen zeigen als nach einer üblichen Schularbeit, wenn Noten im Notenbüchl festgehalten sind.

STANDARD: Und was gilt für die eigentliche Leistungsbeurteilung?

Altrichter: Sie besteht darin, dass einer festgestellten Leistung durch den Vergleich mit irgendeinem Kriterium oder Maßstab eine wertende Bezeichnung, ein "Label", hinzugefügt wird. Das muss nicht notwendigerweise eine Zahl sein, ist aber in Fall der Notengebung in Österreich ein numerischer Wert zwischen 1 und 5, der eine Bewertung ausdrückt und zum Teil mit institutionellen Konsequenzen verbunden ist, zum Beispiel Zuteilung zu einer bestimmten Gruppe, Klassenwiederholung oder AHS-Reife. Die pädagogischen Probleme dieser Ziffernnotenbeurteilung sind schon lange bekannt und gut erforscht.

STANDARD: Was sind Kritikpunkte?

Altrichter: Die Bewertung durch Ziffernnoten ist relativ global und undifferenziert. Wenn jemand ein Genügend in Mathematik bekommt, können sehr unterschiedliche Leistungsprofile dahinter stehen, wie wir einmal im Vergleich von Zeugnisnoten und Mathematiktests festgestellt haben: Eine Vierer-Schülerin hatte eine Teilleistungsschwäche in der Dimension "Raumvorstellung und Grundtatsachen der Geometrie" und eine etwas kleinere Schwäche in "Operieren", hatte aber in allen anderen gemessenen Dimensionen deutlich positive Werte, lag in drei Dimensionen sogar zwischen 90 und 100 Prozent. Ein anderer Schüler, der ebenfalls mit Genügend bewertet wurde, war dagegen gerade in der Dimension "Raumvorstellung" deutlich besser als die vorige Schülerin, oszillierte aber in den meisten anderen Dimensionen um 50 Prozent der gemessenen Werte. Es gibt bessere Instrumente, die differenziertere Informationen geben.

Herbert Altrichter
Erziehungswissenschafter Herbert Altrichter war an der Linz School of Education an der Johannes Kepler Universität (JKU) Professor.
Herbert Altrichter

STANDARD: Was gehört noch zu einer guten Leistungsbeurteilung?

Altrichter: Wichtig ist eine differenzierte Rückmeldung. Dabei helfen kompetenzorientierte Tests. Die Lehrkräfte sollen sich Beurteilungstendenzen bewusst machen, eigene Bewertungen mit anderen, auch aus Standardisierten Tests konfrontieren. Außerdem herrscht in der Praxis der alltäglichen Leistungsbeurteilung eine "soziale Bezugsnorm" vor. Dabei lautet die Rückmeldung beispielsweise: Du hast bessere oder schlechtere Leistungen gezeigt als 30 Prozent der Schülerinnen und Schüler deiner Klasse.

STANDARD: Welche Folgen hat das?

Altrichter: Die Noten sind dann nicht zwischen verschiedenen Klassen, Schulen und Ländern vergleichbar, weil sie sich nicht an dem gleichen sachlichen Leistungsmaßstab, also ob und wie weit die angestrebte Fähigkeit erreicht oder die gestellte Aufgabe gelöst wurde, sondern an den wechselnden Zusammensetzungen der Klassen orientieren. Zudem weiß man aus der Lernpsychologie, dass Bewertung nach der sozialen Bezugsnorm motivational ungünstig ist. Wenn es darum geht, weiteres Lernen zu fördern, bieten sachbezogene Rückmeldungen – wie weit beherrsche ich eine Sache, in welche Fähigkeiten muss ich noch investieren – und individuelle Rückmeldungen – wo bin ich besser geworden, wo stagniert meine Leistung – viel bessere Möglichkeiten.

STANDARD: Welche Rolle spielen subjektive Faktoren der Lehrkräfte?

Altrichter: Man weiß, dass die übliche Ziffernnotenbeurteilung durch subjektive "Beurteilungstendenzen" verzerrt wird: Wenn man ein und denselben Aufsatz oder Mathematiktest mit unterschiedlichen Begleitinformationen – zum Beispiel fleißige Schülerin aus geordneten Verhältnissen versus Faulsack aus zerrütteter Familie – einer größeren Zahl von Beurteilerinnen und Beurteilern vorlegt, dann erhalten Lernende mit positiv eingeschätzten Attributen im Durchschnitt bessere Noten. Es ist nur menschlich, dass wir uns in Personen, die wir besser verstehen, auch besser hineindenken und ihre Stärken leichter entdecken können. Menschlich, aber nicht gerecht, was für Leistungsbeurteilung ja gut wäre.

STANDARD: Wie kann man das Lernen und den Lernfortschritt am effektivsten beeinflussen und fördern?

Altrichter: Wenn es um die pädagogische Aufgabe der Schule geht – wenn Schule also Lernende in ihren fachlichen, überfachlichen und persönlichen Fähigkeiten und Leistungen möglichst gut fördern soll –, sind Ziffernnoten nicht die Methode der Wahl. Das ist keine Dämonisierung von Noten und auch kein Verzicht auf den Leistungsgedanken. Im Gegenteil, die immer genannten pädagogischen Funktionen von Noten – Feedback für die Lernenden und Eltern, Aufbau eines realistischen Selbstbilds, Anreiz für weiteres Lernen – können durch andere Methoden der Leistungsbeurteilung und vielfältigere Formen der Leistungsfeststellung besser erfüllt werden.

STANDARD: Die SPÖ Wien hält auch die Matura für überflüssig. Sie auch?

Altrichter: Für und gegen die Matura kann man alle Argumente zur Leistungsbeurteilung allgemein in Stellung bringen. Dazu kommt, dass die Matura einen besonderen Stellenwert aus ihren Traditionen heraus und aufgrund ihrer Stellung im Lebensweg junger Menschen hat. Dadurch ist sie besonders mit Bedeutung "aufgeladen", was natürlich zum Stress beitragen kann, mit dem manche besser, manche schlechter umgehen können. Auf der anderen Seite ist das Argument, dass die Schule eine "Berechtigungsfunktion" erfüllen muss, am Ende der Schulkarriere deutlich plausibler als in der zweiten Volksschulklasse. Allerdings haben die jüngsten Reformen der Matura, auch wenn sie nicht allen gefallen haben, einige Kritikpunkte entschärft.

"Die Bewertung durch Schulnoten ist relativ global und undifferenziert."

STANDARD: Welche meinen Sie?

Altrichter: Der punktuelle Charakter der Prüfung wurde durch die Einbeziehung früherer Noten und die vorwissenschaftliche Arbeit oder Diplomarbeit verringert. Die geringe Vergleichbarkeit von Noten verschiedener Schulen wurde durch die Standardisierten kompetenzorientierten Klausuren entschärft, deren Nachteile, etwa dass sie nicht unbedingt den Unterricht widerspiegeln, wieder durch die Beibehaltung der mündlichen Prüfungen, die lokale Bedingungen berücksichtigen können, moderiert werden.

STANDARD: Ist die Rolle der Matura als "rite de passage", als Übergangsritus, der die Schulzeit auch symbolisch abschließt, nicht auch ein Wert?

Altrichter: Das ist sicher ein interessanter Gesichtspunkt, wenn durch Schule eine Struktur, wenn Phasen von Anstrengung und Belohnung angeboten werden. Wahrscheinlich ist aber nicht für alle die gleiche Struktur optimal förderlich, was dann hieße, dass es auch gut zugängliche alternative Wege gibt, in denen Leistung gezeigt und Berechtigungen erworben werden können. Angesichts von Quereinsteigern und Versuchen der Anerkennung beruflich erworbener Qualifikationen im Bildungswesen zeigt sich dieser Bedarf ja gegenwärtig deutlich.

STANDARD: Wenn die Problematik der Noten schon lange bekannt ist und Abhilfen möglich sind, warum gibt es dann weiterhin Noten in allen möglichen Bildungsbereichen?

Altrichter: Die Schule hat eben nicht nur eine pädagogische, sondern auch eine gesellschaftliche Funktion: Sie soll "Berechtigungen" in Form von Zeugnissen und Zertifikaten vergeben, die es erlauben, die Absolventinnen und Absolventen möglichst gut auf unterschiedliche gesellschaftliche Positionen zu verteilen. Diese "Berechtigungen" sind dann besonders wichtig, wenn es darum geht, mit einer großen Zahl von Individuen ökonomisch und reibungslos umzugehen – wenn es also zu aufwendig wäre, jeden Einzelfall genau anzuschauen. Typische Beispiele dafür sind die Übergänge im Bildungssystem von einer Schulart zur nächsten oder Bewerbungssituationen im Berufssystem. Da wird dann oft ein erstes Screening nach einigen für die bestimmte Stelle relevanten Schulnoten gemacht. Typischerweise würde man die Stellen aber letztlich nicht allein nach Schulnoten besetzen, sondern beispielsweise die 25 Besten zu einem Bewerbungsgespräch laden, um die Einschätzung der Leistungsfähigkeit zu differenzieren.

STANDARD: Weil die Ziffernnoten auf dem Zeugnis eben doch nicht genügen als Entscheidungskriterium?

Altrichter: Ja, weil die Personalverantwortlichen natürlich auch wissen, dass die Schulnoten nicht immer vergleichbar sind, und weil sie differenziertere Einblicke in Leistungspotenziale bekommen wollen. Darin liegt auch der Grund, warum Schulnoten trotz ihrer Mängel wohl noch ein langes Leben haben werden: Sie machen gesellschaftliche Zuteilungsprozesse einfacher, weil sie klare und vergleichbare Aussagen und gerechte Verteilung von Chancen versprechen. Obwohl man gesellschaftlich weiß, dass das nicht ganz stimmt, wird diese Unschärfe akzeptiert, indem man sich eben nicht auf die Noten verlässt und manche Ungerechtigkeit, die für Einzelne entsteht, toleriert. (Lisa Nimmervoll, 14.12.2023)