Bei propalästinensischen Protesten, hier etwa in London Mitte November, wird immer wieder der Genozid-Vorwurf gegen Israel erhoben.
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"Katastrophal", "apokalyptisch", "Hölle auf Erden": Die Beschreibungen von Hilfsorganisationen und internationalen Vertretern für die Lage im Gazastreifen sind kaum noch an Superlativen zu übertreffen. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel mit rund 1200 Toten und 240 Entführten geht Israels Armee mit voller Härte gegen die Terrororganisation im Gazastreifen vor – und trifft auch die Zivilbevölkerung.

In den vergangenen Monaten wird dabei vermehrt mit einem heiklen Begriff hantiert: Genozid. So sprach der israelische Historiker und Genozid-Forscher Raz Segal bereits am 13. Oktober von "einem Fall von Völkermord aus dem Lehrbuch". Wenig später und angesichts rasant steigender Opferzahlen warnten 800 Wissenschafterinnen und Wissenschafter vor einem "potenziellen Genozid" in Gaza. Mitte November riefen dutzende UN-Experten die internationale Gemeinschaft zur Verhinderung eines Genozids am palästinensischen Volk auf. Und auch umgekehrt wird der Terrorüberfall der Hamas vom 7. Oktober immer wieder als "Genozid" oder "genozidaler Angriff" bezeichnet.

Doch worum geht es bei dem Begriff eigentlich? Wer entscheidet, was als Genozid gilt? Und was bedeutet das alles für die Situation in Israel/Palästina? DER STANDARD hat die wichtigsten Fragen und Antworten rund um die Genozidvorwürfe in dem Nahost-Krieg zusammengetragen.

Frage: Woher stammt der Begriff des Genozids?

Antwort: Der Begriff wurde während des Zweiten Weltkriegs von dem Juristen Raphael Lemkin geprägt, der nach einer Beschreibung für die Gräueltaten des Nationalsozialismus suchte. Rechtlich definiert wurde der Genozid in der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes", die 1948, also vor 75 Jahren, angenommen wurde und bisher von 153 Staaten ratifiziert wurde. "Alle wesentlichen juristischen Texte berufen sich auf die Definition in diesem Dokument", erklärt Andreas Müller, Professor für Völkerrecht an der Universität Basel dem STANDARD.

Frage: Wie lautet die Definition?

Antwort: "Die Definition ist eine sehr enge, es fällt wirklich wenig darunter", sagt Astrid Reisinger Coracini, Völkerrechtlerin an der Universität Wien. So kommen für einen Genozid, auch Völkermord genannt, etwa nur ganz bestimmte Tathandlungen infrage, zum Beispiel Tötungen oder die Verschleppung von Kindern. Die Handlungen müssen zudem gegen eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe gerichtet sein. "Das alles Entscheidende bei der Definition ist aber die Völkermord-Absicht", sagt Resinger Coracini.

Frage: Worum geht es dabei?

Antwort: Beim Völkermord reicht nicht der Vorsatz, einzelne Tathandlungen zu begehen. Es braucht vielmehr die darüber hinausgehende Absicht, eine bestimmte Gruppe ganz oder teilweise zu "zerstören". Dabei geht es laut Reisinger Coracini weniger darum, wie viele Menschen getötet werden, sondern um die dahintersteckende Vorstellung des Täters. "Das ist der Unterschied zwischen einem Kriegsverbrechen und einem Genozid", ergänzt Müller. Vereinfacht gesagt könnte man es auch so formulieren: Das Töten ist bei einem Genozid nicht mehr ein Mittel, um einen bestimmten Zweck zu erreichen, sondern zum Selbstzweck geworden.

Frage: Wie beweist man diese Absicht in der Praxis?

Antwort: Der Beweis, dass es tatsächlich eine "genozidale Absicht" gibt, ist in der Praxis äußerst schwierig. Dass – so wie bei der Wannsee-Konferenz der Nationalsozialisten – Regierungsdokumente oder Gesprächsprotokolle vorliegen, ist selten der Fall. Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit lassen sich üblicherweise leichter beweisen als ein Genozid.

Frage: Wer entscheidet, ob ein Genozid vorliegt?

Antwort: Rechtlich liegt diese Entscheidung bei Gerichten. Über Verbrechen von Staaten urteilt der Internationale Gerichtshof (IGH), über Verbrechen von Einzelpersonen der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) und nationale Strafgerichte. Seit Inkrafttreten der Völkermord-Konvention wurden die Massentötungen in Ruanda im Jahr 1994 und in Srebrenica im Jahr 1995 von internationalen Gerichten als Genozide anerkannt.

Frage: Was bedeutet das alles für Israel und Palästina?

Antwort: Auf beiden Seiten gab und gibt es massenhafte Tötungen, zudem stehen sich im Konflikt zwei in der Völkermord-Konvention geschützte Gruppen gegenüber. Fraglich ist aber, ob tatsächlich eine "genozidale Absicht" vorliegt – ob also die Tötung zum Selbstzweck geworden ist. Geht man davon aus, dass die Schwelle zu einem Genozid (noch) nicht übersprungen wurde, könnten freilich immer noch Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorliegen.

Frage: Was spricht für und gegen eine genozidale Absicht Israels?

Antwort: Wissenschafter, die das im Fall von Israel bejahen, berufen sich auf Aussagen einzelner Politiker. Schon am 7. Oktober sagte Premierminister Benjamin Netanjahu etwa, dass die Bewohner des Gazastreifens einen "hohen Preis" für den Anschlag der Hamas zahlen würden. Ende Oktober fügte er einen biblische Referenz hinzu: "Ihr müsst euch daran erinnern, was Amalek euch angetan hat." In dieser Bibelstelle gebietet Gott dem Volk Israel, die Amalekiter auszurotten, "Männer und Frauen, Säuglinge und Kleinkinder gleichermaßen zu töten". Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant kündigte an, dass die Armee im Krieg gegen die Hamas gegen "menschliche Tiere" kämpfe und "dementsprechend" handeln werde. Gegner einer solchen Einstufung dieser und ähnlicher Aussagen als genozidale Absicht verweisen darauf, dass der israelische Staat zwar eine unverhältnismäßig hohe Zahl ziviler Opfer in Kauf nehme und damit möglicherweise Kriegsverbrechen begehe, die Tötungen aber nicht zum Selbstzweck geworden seien.

Frage: Was spricht für und gegen eine genozidale Absicht der Hamas?

Antwort: Völkerrechtler, die einen Genozid seitens der Hamas bejahen, argumentieren mit der Charta der Terrororganisation. Darin wird nicht nur das Existenzrecht Israels aberkannt, sondern auch zur Tötung von Juden aufgerufen. Beim brutalen Überfall am 7. Oktober wurden auf grausamste Art und Weise gezielt Zivilistinnen und Zivilsten ermordet, was der genozidalen Absicht der Charta entspricht. Kritiker einer solchen Einstufung argumentieren, dass die Hamas zwar "genozidale Attentate" verübt, aber nicht in der Lage sei, einen großangelegten Genozid zu planen und durchzuführen – wobei die Anzahl der Opfer in der rein rechtlichen Definition eigentlich nicht entscheidend ist.

Frage: Gibt es in Israel/Palästina bereits Verfahren?

Antwort: Der Internationale Strafgerichtshof untersucht die Lage in den palästinensischen Gebieten seit 2021. Geprüft werden Vorfälle ab Mitte 2014, Israel will diese Ermittlungen allerdings nicht anerkennen. Auch am Internationalen Gerichtshof ist ein Verfahren anhängig. Anfang dieses Jahres hat die UN-Generalversammlung den Gerichtshof damit beauftragt, die Lage aus völkerrechtlicher Sicht zu beurteilen und ein Gutachten zu erstellen.

Frage: Sollte man die Definition des Genozids verändern, damit er leichter beweisbar ist?

Antwort: Befürworter einer solchen Änderung argumentieren, dass die Beweisschwelle zu hoch ist. Genozide werden meist nicht von einem Tag auf den anderen per Regierungsbeschluss angeordnet, sondern entwickeln sich schleichend über die Zeit. Deshalb fehlen oft harte Beweise. Gegner einer Neudefinition argumentieren, dass der Genozid eine Sonderstellung habe – vor allem im historischen Kontext des Holocaust. Eine Aufweichung würde dazu führen, dass die Abgrenzung zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit verschwimme. Völkerrechtler Ralph Janik schlägt im STANDARD-Podcast vor, den Druck aus der Debatte zu nehmen, indem man sich nicht auf eine "Hierarchie" der Tatbestände versteift. Das könnte schließlich zu schier unmöglichen Bewertungen führen, etwa zu der Frage, was schlimmer ist: ein Genozid von 1.000 Menschen oder ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit 10.000 Toten.

Frage: Ist es wichtig, von Genozid zu sprechen?

Antwort: Der Nachweis, ob es sich um einen Völkermord handle, nehme Zeit in Anspruch und verhindere nicht, dass Menschen getötet würden, argumentiert etwa Ernesto Verdeja, Professor mit Fokus auf Genozid an der Universität von Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana. In der aktuellen Debatte sieht man sich schnell Vorwürfen ausgesetzt, man sei entweder Genozid-Leugner oder Terror-Unterstützerin, muss sich also schwerwiegenden Anschuldigungen gegenüber rechtfertigen. Damit spricht man weniger über die Ursachen und darüber, wie die Gewalt beendet werden könnte. Gegner dieser Argumentation betrachten im Gegenteil eine Definition als essenziell: Damit würde etwa auch internationales Einschreiten zusammenhängen, das erst bei einem solchen Verbrechen zum Einsatz komme. Zudem sei es für Opfer oft wichtig, den Grund für Tötungen zu benennen. Historiker und Genozidforscher Omer Bartov sagte zumindest noch vor einem Monat: "Wir wissen aus der Geschichte, dass es entscheidend ist, vor einem möglichen Völkermord zu warnen, bevor er stattfindet, anstatt ihn erst zu verurteilen, wenn er bereits stattgefunden hat. Ich denke, dass wir diese Zeit noch haben." (Jakob Pflügl, Noura Maan, 20.12.2023)