Regierungsbank
Österreich erwartet ein völlig unprognostizierbares Wahljahr. Wer wird nach der Nationalratswahl auf der Regierungsbank im Parlament sitzen?
APA/ROLAND SCHLAGER

Im Jahr 2024 wird Österreich in einen seltenen politischen Zustand geraten. Denn es ist ein Wahljahr – doch völlig unprognostizierbar, wer danach in welcher Konstellation regiert. Es gibt drei Parteien, die gute Chancen haben, den Kanzler zu stellen: FPÖ, ÖVP, SPÖ. Es gibt mindestens sieben Koalitionsvarianten, die denkbare Chancen auf Umsetzung hätten: FPÖ/ÖVP, SPÖ/ÖVP, ÖVP/SPÖ, ÖVP/SPÖ/ Grüne, SPÖ/ÖVP/Grüne, SPÖ/ÖVP/Neos und ÖVP/SPÖ/Neos. Auffällig ist dabei, dass in jeder Variante die ÖVP eine Rolle spielt. Wobei auch eine Ampelkoalition nicht völlig ausgeschlossen werden kann, obwohl die Umfragen gerade nicht danach aussehen.

Womöglich wird aber auch noch eine bis dato unbekannte neue Gruppierung bei der Wahl antreten, durch die alle genannten Mehrheitsverhältnisse sensibel verschoben werden. Es gilt – und das ist selbst für die instabile österreichische Innenpolitik ungewöhnlich: Fast alles ist möglich.

Im Film Forrest Gump sagt die Hauptfigur: "Das Leben ist wie eine Schachtel Pralinen. Man weiß nicht, was man kriegt." Das trifft auch auf Österreichs Politik zu. Das ist die positive Sichtweise. Die negative Erzählung lautet: Womöglich ist Österreich trotz der vielen theoretischen Optionen demnächst praktisch unregierbar, wenn sich schlussendlich keine sinnvollen Einigungen erzielen lassen. Und was dann?

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Wird eine Minderheitsregierung zustande kommen?
Armin Karner

Viele rechnen mit Blau-Türkis

In den Parteizentralen werden derzeit Koalitionsvarianten durchgedacht und Kontakte zu Vertretern anderer Parteien intensiviert. Es wird ausgelotet, was mit wem möglich wäre – und es werden Ideen gesponnen, wie es nach der kommenden Wahl weitergehen kann. Die Vorbereitungen laufen.

In allen Parteien außer der ÖVP gilt es als wahrscheinlichste Variante, dass Freiheitliche und Volkspartei 2024 doch noch einmal zusammenfinden. ÖVP-Chef und Bundeskanzler Karl Nehammer und andere wichtige Vertreter der Partei schließen eine Zusammenarbeit mit FPÖ-Obmann Herbert Kickl zwar dezidiert aus – im politischen Betrieb gehen dennoch viele davon aus, dass die ÖVP einen Weg finden wird, Teil einer blau-türkisen Regierung zu werden. Schließlich könnte die ÖVP so auch das Justizministerium wieder unter Kontrolle bringen, meint ein Grüner.

Gesprochen wird jedoch auch darüber, was passiert, wenn gar nichts funktioniert. Wenn die FPÖ tatsächlich die Wahl gewinnt und Kickl den Anspruch aufs Kanzleramt stellt, aber keinen Koalitionspartner findet. Wenn rechnerisch keine anderen Zweierkonstellationen möglich sind und sich die Parteien nicht auf komplizierte Dreierkoalitionen einigen können – oder wollen. Und da fällt neuerdings manchmal ein Wort, das in Österreich bisher wenig Bedeutung hatte: Minderheitsregierung. Aber wäre das vorstellbar?

1. Die Idee

Eine Minderheitsregierung ist eine Regierung, die keine Mehrheit im Parlament hat – also: zumindest nicht direkt.

Aktuell stellen ÖVP und Grüne gemeinsam rund 53 Prozent der Abgeordneten im Nationalrat. Die Regierung hat somit eine Mehrheit für alles, was sie umsetzen möchte – denn in Österreich herrscht traditionell strikte Klubdisziplin, Abgeordnete stimmen im Sinne der Parteivorgabe.

Eine Minderheitsregierung hat keine Mehrheit im Parlament, sie benötigt aber eine Mehrheit, die sie stützt. Ansonsten würde ihr das Misstrauen ausgesprochen. Das ist 2019 Sebastian Kurz passiert, nachdem die FPÖ die türkis-blaue Regierung verlassen hatte. Kurz war zwar noch Kanzler, hatte jedoch plötzlich keine Mehrheit im Parlament mehr. So wurden er und die Reste seiner Regierung durch einen Misstrauensantrag aller anderen Parteien gestürzt, und es kam zu Neuwahlen.

Eine Minderheitsregierung muss also eine Absprache mit zumindest einer anderen Partei haben, die sie stützt. Dafür werden in der Regel thematische Abkommen geschlossen.

2. Der Präzedenzfall Kreisky

In Österreich haben Minderheitsregierungen zwar keine Tradition, es gab aber bereits eine. Aus der Nationalratswahl 1970 ging die SPÖ unter Bruno Kreisky als Siegerin hervor – sie lag damals nicht ganz vier Prozentpunkte vor der ÖVP. Die beiden Parteien wollten oder konnten sich allerdings nicht einigen. Kreisky schob der ÖVP die Schuld am Scheitern der Verhandlungen zu und schmiedete eine Minderheitsregierung, die von der FPÖ – damals eine Kleinstpartei – gestützt wurde. Die FPÖ hatte davor übrigens dezidiert ausgeschlossen gehabt, einen roten Bundeskanzler zu unterstützen – so viel zu Wahlversprechen.

Die Regierung setzte Kreisky so zusammen, dass sie unterschiedliche Wählergruppen ansprach. Die Budgetsituation war rosig, weshalb einige Projekte umgesetzt werden konnten – etwa die Verkürzung des Wehrdiensts. Lange hielt die Minderheitsregierung aber nicht. Nach 18 Monaten wurde gewählt. Zumindest aus Sicht der SPÖ war die Zeit dennoch erfolgreich. Danach – 1971 – bekamen die Sozialdemokraten die absolute Mehrheit.

Eine Extremform der Minderheitsregierung war die Expertenregierung unter Kanzlerin Brigitte Bierlein in der Übergangszeit bis zur Wahl nach der Ibiza-Affäre 2019. Alle Parteien stützten Bierlein, die der Bundespräsident zur Kanzlerin gemacht hatte, ohne dass sie davor für eine Partei kandidiert hatte.

Nahe an die Idee, wie eine Minderheitsregierung operieren könnte, kommen auch Phasen des sogenannten "freien Spiels der Kräfte" wie 2017 oder 2019 nach der Ankündigung von Neuwahlen. Damals haben alle Parteien mit wechselnden Mehrheiten gemeinsame Vorhaben beschlossen.

3. Modelle aus dem Ausland

In Dänemark sind Minderheitsregierungen nicht die Ausnahme, sondern die Norm – auch wenn die aktuelle Regierung unter Mette Frederiksen de facto über eine parlamentarische Mehrheit verfügt. "Norwegen, Dänemark und Schweden haben ein Einkammersystem, das die Voraussetzungen für eine Minderheitsregierung einfacher macht", erklärt die britisch-österreichische Politologin Melanie Sully.

Sie verweist auch auf Großbritannien, wo die konservative Politikerin Theresa May 2017 eine Minderheitsregierung gebildet hatte, die von der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) geduldet wurde. "Die DUP hat im Gegenzug Geld für Nordirland bekommen und viel Einfluss auf die Brexit-Politik im Parlament ausgeübt", sagt Sully. "Jedenfalls braucht eine Minderheitsregierung immer eine stabile Vereinbarung mit einem Bündnispartner, ansonsten wird sie nicht lange Bestand haben. Es droht auch immer, dass der Bündnispartner die Regierung unter Druck setzt – um nicht zu sagen: Sie erpresst."

4. Die österreichische Umsetzung

Es gibt keine Partei in Österreich, in der eine Minderheitsregierung als bevorzugte Variante nach der kommenden Wahl bezeichnet wird. Das Modell kursiert eher als "letzter Ausweg". Aber wie könnte das aussehen?

Ausgeschlossen wird in allen Parteien abseits der FPÖ, dass eine Minderheitsregierung von Kickl geduldet würde. Zur Diskussion stehen Varianten, in denen der Zweitplatzierte hinter Kickl oder eine parteiunabhängige Person den Kanzler oder die Kanzlerin stellt. Klar ist auch, dass die Regierung so aufgestellt sein müsste, dass sie breit akzeptiert würde.

"Natürlich könnte eine Minderheitsregierung eine Chance sein, den Parlamentarismus zu stärken. Wir sind immer bereit, dass das Parlament selbstbewusster und aktiver arbeitet", sagt Douglas Hoyos-Trauttmansdorff, Generalsekretär der Neos. Schließlich müssten so wesentliche Entscheidungen im Nationalrat ausgehandelt werden. "Aber es kommt sehr darauf an, wie und mit wem eine Minderheitsregierung ausgestaltet wäre."

In der SPÖ gilt grundsätzlich: Man möchte wieder regieren – bevorzugt mit einer stabilen Mehrheit. In der Strategieabteilung der Partei wird aber auch erklärt, dass man für andere Varianten durchaus offen sei. Eine Minderheitsregierung war bereits unter Parteichef Alfred Gusenbauer im Jahr 2006 Thema in der SPÖ. Manche in der Partei finden heute noch, es sei damals ein Fehler gewesen, das nicht zu versuchen – und stattdessen mit der ÖVP zu koalieren. Ausgeschlossen wird in der SPÖ lediglich eine Koalition mit der FPÖ. Ähnliches ist von Grünen zu hören. Am wenigsten Anklang findet die Idee in der ÖVP.

Die Politologin Sully sagt: "Es ist auch eine Frage der Stimmung im Land. Es müsste zwischen den Parteien eine gewisse Vertrauensbasis geben, die ich aktuell nicht erkenne." Manche Parteistrategen fürchten: Eine Minderheitsregierung "gegen Kickl" würde schlussendlich die FPÖ stärken.

Eines ist sicher: Das kommende Jahr wird eines der spannendsten der jüngeren heimischen Politgeschichte – fast alles ist möglich. (Katharina Mittelstaedt, 17.12.2023)