Eine Gruppe von Polizisten am 2. November 2020 nach einem jihadistischen Anschlag in der Wiener Innenstadt.
Den Wiener Attentäter vom 2. November 2020 will Ali K. angeblich nicht nur gekannt haben. Er zählte den Jihadisten auch zu seinen Vorbildern.
AFP/ Joe Klamar

Am 11. September war Ali K. bereit. Der türkischstämmige Jihadist zog los, um einen Anschlag am Wiener Hauptbahnhof zu begehen. Davor hatte sich der mittlerweile 17-Jährige ein Feldmesser um 20 Euro in bar gekauft und ein T-Shirt in Tarnfarben. Beides stellte er in einer einschlägigen Telegram-Gruppe samt IS-Gruß sowie klarer Anschlagsankündigung zur Schau. Am Wiener Hauptbahnhof angekommen, verließ K. aber glücklicherweise der Mut. Er gab seinen Anschlagsplan in letzter Sekunde auf. Das deckte DER STANDARD auf.

In einer Polizeieinvernahme machte K. später kein Hehl daraus, wie ernst es ihm war: "Ich bin mir sicher, dass es richtig ist, einen Anschlag an Ungläubigen zu verrichten." Mehr als drei oder vier Opfer habe er im Sinn gehabt. "Ich wollte im Anschluss daran von der Polizei erschossen werden, um als Märtyrer in den Himmel zu kommen." Den Wiener Attentäter, der am 2. November 2020 vier Menschen erschoss und etliche weitere verletzte, zählte der Jihadist dabei zu seinen Vorbildern.

Auf die Ermittler machte K. bisher aber den Eindruck, dass er über eine geistige Reife verfügt, die keinesfalls seinem Alter entsprechen könne. Ein klinisch-psychologisches Gutachten sollte deshalb klären, ob der Jugendliche seine geplante Untat überhaupt als solche erkennen konnte. Es liegt dem STANDARD, Puls 24 und der APA vor.

"Du schaust aus wie ein IS-Anhänger"

Demnach wird dem 17-Jährigen zwar eine grobe "Lernbehinderung und Entwicklungsverzögerung" attestiert. Allerdings gilt K. als "reif genug", um eine Straftat als solche zu erkennen. Immerhin sagte der Jugendliche selbst in einer Einvernahme: "Mir war bewusst, dass ich für einen Anschlag, falls ich ihn überlebe, eine lebenslange Haftstrafe bekommen hätte."

Eine Geisteskrankheit, eine geistige Behinderung oder eine tiefgreifende Bewusstseinsstörung werden in dem Gutachten dezidiert ausgeschlossen. Weshalb die Sachverständige im besagten Fall keine Einweisung in ein forensisch-therapeutisches Zentrum – ehemals Maßnahmenvollzug – empfiehlt.

Begründet wird das mit dem bisher zerrütteten Lebensweg des Jugendlichen. Dessen Mutter starb, als er sechs Jahre alt war. Dieses Trauma habe der 17-Jährige "niemals aufgearbeitet und bewältigt", wird in dem Gutachten ausgeführt. In der Schule sei K. laufend gemobbt worden und habe leistungsbezogene Misserfolge erlebt. Einen richtigen Freundeskreis soll er nie gehabt haben. Das Verhältnis zum Vater gilt als kritisch.

Auf die radikalen Islamansichten seines Sohnes soll der Erziehungsberechtigte mit Härte reagiert haben. Als sich der 17-Jährige einen Bart stehen ließ, habe er zu hören bekommen: "Du schaust aus wie ein IS-Anhänger, man sollte deinen Kopf abschlachten lassen." Auch als "Affe" oder "Fettsack" sei Ali K. von seinem Vater bezeichnet worden. Der verneinte Episoden wie diese in einer Einvernahme. Innerhalb der Familie fühle sich K. aber "verspottet und weiter gedemütigt".

Gutachterin empfiehlt WG mit Auflagen

All das soll die zunehmende Radikalisierung des Jihadisten zwar zusätzlich befördert haben. Das sei aber nicht als "schwerwiegende und nachhaltige psychische Störung" einzustufen, was für eine Einweisung Bedingung wäre.

K. wird in dem Gutachten anhand eines Islamismus-Screeners allerdings dezidiert als Hochrisikogefährder eingestuft – unter anderem weil er angab, in einer Gemeinschaft von IS-Anhängern leben zu wollen, sich in einem radikalen Umfeld bewegt und anschließend bewaffnet hatte. Aber auch weil K. wohl an wiederkehrenden Suizidgedanken leiden dürfte. Die Welt habe für ihn "keinen Wert", sagte der Jugendliche einmal vor Polizisten aus.

Aufgrund "zahlreicher Risikofaktoren", die künftige Straftaten begünstigen können, empfiehlt die zuständige Gutachterin daher, dass K. in einer sozialpädagogischen Wohngemeinschaft untergebracht wird – und somit nicht im Gefängnis. Das ist an verpflichtende Auflagen gebunden: eine Bewährungshilfe, ein Deradikalisierungsprogramm, eine psychologische Therapie und ein soziales Kompetenztraining in der Gruppe.

K. selbst sieht sich mittlerweile nicht mehr als IS-Anhänger, sondern bloß als "normalen, gottesfürchtigen" Muslim, wie er aussagt. Etwa ein Drittel der Straftäter, die der gleichen Risikokategorie angehören wie der 17-Jährige, würden jedenfalls innerhalb von durchschnittlich zehn Jahren wieder straffällig werden, geht aus dem Gutachten hervor.

Der Anwalt des Beschuldigten, David Jodlbauer, rechnet anhand des Gutachtens damit, dass sein Mandant bald aus der Untersuchungshaft entlassen wird. "Das Gutachten ist ein guter Schritt in die richtige Richtung für den Beschuldigten, es kann relativ bald mit einem Abschluss des Ermittlungsverfahrens gerechnet werden", sagt Jodlbauer. "Ich gehe davon aus, dass das Gericht das Gutachten bei der Prüfung, ob der Beschuldigte bis zur Verhandlung in Haft bleiben muss, zu seinen Gunsten verwendet."

Gegen K. steht der Vorwurf der Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation sowie in einer terroristischen Vereinigung im Raum. In Summe droht dem Minderjährigen eine Freiheitsstrafe von bis zu zehn Jahren. (Jan Michael Marchart, 18.12.2023)