Der Verfassungsgerichtshof ist in der Rolle als Streitschlichter in U-Ausschüssen heute nicht mehr wegzudenken.
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Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen. Nachdem im Jahr 2015 neue Spielregeln im Zusammenhang mit Untersuchungsausschüssen – unter anderem sahen diese vor, dass die Parteien sich in Streitfragen künftig an den Verfassungsgerichtshof (VfGH) wenden können – in Kraft getreten waren, äußerte sich der damalige ÖVP-Klubobmann Reinhold Lopatka in einem Interview zu diesem Thema. Er meinte darin sinngemäß, dass er nicht mit allzu vielen Anlässen rechne, in denen das Höchstgericht bemüht werde. Und "wenn etwas zum VfGH geht, dann halte ich das für kein Malheur", sagte Lopakta.

Neun Jahre später ist der Verfassungsgerichtshof als Streitschlichter in U-Ausschüssen gefragter denn je und im Zusammenhang mit dem parlamentarischen Kontrollgremium nicht mehr wegzudenken. An die hundert Mal wurde der VfGH im Jahr 2022 im Zuge des ÖVP-Korruptions-U-Ausschusses angerufen, heißt es auf Anfrage des STANDARD. Von einem "Rekordjahr" und einem "absoluten Ausreißer" ist die Rede.

Nach einer kurzen Verschnaufpause in diesem Jahr – der ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss ging zu Jahresbeginn zu Ende, die beiden neuen U-Ausschüsse starten planmäßig erst am 11. Jänner 2024 – dürften die Höchstrichterinnen und -richter demnächst wieder alle Hände voll zu tun bekommen.

Erster Clinch vor dem Start

Einen Vorgeschmack darauf gibt ein Antrag von SPÖ und FPÖ, der kurz vor Weihnachten beim VfGH eingetrudelt ist. Streitfrage ist diesmal, welche Stellen dem Cofag-U-Ausschuss Akten liefern müssen.

Rote und Blaue hatten in ihrem Verlangen zur Prüfung der Milliardenzahlungen durch die Covid-19-Finanzierungsagentur (Cofag) mit Fokus auf eine mögliche Bevorzugung ÖVP-naher Milliardäre wie René Benko oder Siegfried Wolf 27 Behörden, Institutionen und staatliche Unternehmen aufgelistet, die Akten liefern müssen. Sechs davon wurden hernach im Geschäftsordnungsausschuss mit türkis-grüner Mehrheit aus dem Beweisbeschluss gestrichen. Darunter auch die Abbaugesellschaft des Bundes (Abbag), Muttergesellschaft der Cofag.

"ÖVP und Grüne wollen dem U-Ausschuss die Akten zu den Immo-Deals und anderen fragwürdigen Geschäften mit Benko vorenthalten", übt SPÖ-Fraktionsführer Kai Jan Krainer Kritik und spricht in diesem Zusammenhang von "Vertuschung".

Rote und Blaue beantragten nun beim VfGH die Feststellung, dass der Umfang des Beweisbeschlusses nicht hinreichend sei. Weil der VfGH im Eilverfahren – also tunlichst binnen vier Wochen – zu entscheiden hat, wird noch im Jänner mit einem Erkenntnis gerechnet.

Kai Jan Krainer und Christian Hafenecker, die Fraktionsführer von SPÖ und FPÖ im Cofag-U-Ausschuss, zogen noch vor dessen Start vor das Höchstgericht.
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Stärkung der Minderheit

Ein Blick ins Archiv zeigt: Nimmt man Anträge der ÖVP aus der jüngeren Vergangenheit einmal aus, fielen die Erkenntnisse des VfGH in den vergangenen Jahren fast immer zugunsten der antragstellenden Minderheit aus. Zum Großteil zogen die Parteien wegen Streitfragen in Bezug auf die Lieferung beziehungsweise Vorlage von Akten vor den Verfassungsgerichtshof – entweder weil diese nicht, nur unvollständig oder geschwärzt geliefert wurden.

Ob Hypo-, BVT-, Eurofighter-, Ibiza- oder ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss – seit 2015 ging kein Untersuchungsausschuss über die Bühne, im Zuge dessen das Höchstgericht nicht im Zusammenhang mit Akten befasst wurde. So gut wie immer mit dem Ergebnis, dass Unterlagen und Dokumente nachgeliefert werden mussten. Auch das Ibiza-Video wurde dem U-Ausschuss erst nach einem Entscheid des VfGH von Justizministerin Alma Zadić (Grüne) ungeschwärzt vorgelegt.

Erstmals wurden die neuen Spielregeln für Untersuchungsausschüsse mit dem Start des Hypo-U-Ausschusses im Frühjahr 2015 dem Praxistest unterzogen. Lange hat es damals nicht gedauert, bis der VfGH einen Streit schlichten musste.

Die damaligen Oppositionsparteien FPÖ, Grüne, Neos und Team Stronach haben die Frage, ob geschwärzte Akten des Finanzministeriums zulässig sind, vors Höchstgericht getragen. Dieses musste prüfen, ob Akten unter Berufung auf das Bankgeheimnis oder den Datenschutz geschwärzt werden dürfen.

Das Höchstgericht entschied, dass die Aktenschwärzungen des Finanzministeriums rechtlich nicht gerechtfertigt waren und alles ungeschwärzt vorzulegen sei.

Doch auch im Zusammenhang mit dem Untersuchungsgegenstand oder Ladungen von Auskunftspersonen wurde das Höchstgericht in den vergangenen Jahren bemüht – etwa im Ibiza-U-Ausschuss.

Präsident schickt Exekutor

Apropos Ibiza-U-Ausschuss: Hier stellte der Verfassungsgerichtshof im Jahr 2021 auch den Bundespräsidenten vor eine noch nie dagewesene Herausforderung. Alexander Van der Bellen sah sich damals damit konfrontiert, einem Exekutionsantrag des VfGH nachzukommen.

In der Causa ging es um die Frage, ob der damalige Finanzminister Gernot Blümel (ÖVP) dem U-Ausschuss alle angeforderten Akten geliefert hat – und damit einem Erkenntnis des VfGH zur Gänze nachgekommen ist. Die Angelegenheit spitzte sich dermaßen zu, dass Van der Bellen letztlich das Straflandesgericht Wien mit der Exekution, also der Durchsetzung des VfGH-Erkenntnisses, beauftragen musste.

Ein peinlicher Tiefpunkt für die ÖVP in der Auseinandersetzung rund um die Lieferung von Akten an den U-Ausschuss, befanden damals Kritikerinnen und Experten. Überhaupt hatte die ÖVP in den vergangenen Jahren kaum Erfolg vor dem VfGH und ist mit ihren Anträgen bis auf ganz wenige Ausnahmen abgeblitzt. Im Vorjahr hatte das Höchstgericht im Zusammenhang mit dem ÖVP-Korruptions-U-Ausschuss sogar mehr als 70 Anträge der Volkspartei ab- oder zurückgewiesen.

Ob 2024 ein neues Rekordjahr in Sachen Anträge an den VfGH im Zusammenhang mit U-Ausschüssen wird, wird sich bald zeigen. (Sandra Schieder, 28.12.2023)