Die Eiskunstläuferin Tonya Harding, hier im Jahr 1994.
Die Eiskunstläuferin Tonya Harding, hier im Jahr 1994.
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Es ist ein historischer Moment. Am 16. Februar 1991 nimmt die US-Amerikanerin Tonya Harding an den nationalen Meisterschaften im Eiskunstlauf teil – und schafft als erste US-Amerikanerin und als zweite Frau weltweit einen "Triple Axel" in einem Wettbewerb. Dabei handelt es sich um den schwierigsten Sprung im Eiskunstlauf, der vor ihr nur der Japanerin Midori Ito gelang. Nachdem sie sich tatsächlich dreieinhalbmal in der Luft gedreht hat und dann landet, ohne hinzufallen, strahlt die 20-jährige Harding über das ganze Gesicht. Sie hat sichtlich lange auf diesen Moment hingearbeitet.

Tonya Harding's First Triple Axel- The 1991 U.S. Nationals Figure Skating Championships
The Triple Axel in Ladies Figure Skating

Doch von Tonya Harding blieb vorrangig ein anderer Moment in Erinnerung: Am 6. Jänner 1994 wird ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan nach dem Training brutal attackiert, ein Mann schlägt mit einem Schlagstock auf ihr Bein. Aufnahmen der weinenden 24-Jährigen, die mit schmerzverzerrtem Gesicht immer wieder nach dem Wieso fragt, gehen um die Welt – und der zuvor heraufbeschworene "Cat-Fight" zwischen Harding und Kerrigan hat einen neuen, brutalen Höhepunkt erreicht.

Nancy Kerrigan Attack - January 6, 1994
IntersportChicago

Doch wie war es so weit gekommen? Viele Fragen zu den Hintergründen des Angriffs lassen sich auch 30 Jahre später nicht beantworten. Doch klar ist: Tonya Harding war eine außergewöhnlich talentierte Eiskunstläuferin, die nicht nur aufgrund ihrer sozialen Herkunft enorme gesellschaftliche Hürden überwinden musste, sondern auch genau deshalb jahrelang stigmatisiert und erniedrigt wurde. Aber beginnen wir am Anfang.

Mit drei Jahren auf dem Eis

Tonya Harding wird am 12. November 1970 in Portland im US-Bundesstaat Oregon in "schwierige Verhältnisse" geboren. Anders gesagt: Ihre Familie ist arm. Ihre Mutter arbeitet als Kellnerin, ihr Vater hat laufend Gelegenheitsjobs, beide sind aber oft arbeitslos. Mit elf Jahren ist Tonya mit ihrer Familie schon 13-mal umgezogen.

Bereits als Dreijährige entdeckt sie das Eislaufen für sich, bei einem Besuch in einer Mall mit Eislaufbahn drängt sie ihre Mutter dazu, ihr Unterricht zu ermöglichen. Doch für sie bedeutet das nicht etwa wohlbehütet ein- bis zweimal die Woche nach der Schule ein bisschen eiszulaufen. Um sich das Training überhaupt leisten zu können, erzählt Harding später, sammeln sie und ihre Mutter unter anderem Pfandflaschen und Dosen auf Autobahnen.

Zur kindlichen Motivation von Tonya Harding kommt das Erfolgsstreben ihrer Mutter: Jeden Tag fährt sie sie um 4.30 Uhr aufs Eis, damit sie drei Stunden vor der Schule trainiert. Nach der Schule geht es wieder in die Eislaufhalle. Als Tonya älter wird, kommt noch ein Teilzeitjob dazu. Mit 15 bricht sie die Schule ab, um sich ganz dem Eiskunstlauf zu widmen.

Gewaltvolle Beziehungen

Während des Trainings darf sie manchmal nicht einmal Klopausen machen, ihre Mutter zwingt sie, auf dem Eis zu urinieren. Sie ist ihrer Tochter gegenüber immer wieder gewalttätig, wie Tonya später in ihrer Autobiografie "The Tonya Tapes" schildert. Sie nennt sie fett und hässlich, zieht sie an ihren Haaren vom Eis, schlägt sie, verbietet ihr das Abendessen, wenn die Tochter ihrer Meinung nach eine schlechte Leistung geliefert hat. Sie untersagt ihr, gegen ihren Halbbruder bei der Polizei auszusagen, den sie der versuchten Vergewaltigung beschuldigt.

Harding heiratet schon mit 19 Jahren Jeff Gillooly, den einzigen Mann, mit dem sie je ausgegangen ist. Eigenen Angaben zufolge entscheidet sie sich vor allem für die Ehe, weil sie so verzweifelt aus dem Haus ihrer Mutter wegkommen will. Doch auch er ist gewalttätig, immer wieder ruft sie deshalb die Polizei, immer wieder gibt es einstweilige Verfügungen gegen Gillooly. "Meine Mutter schlug mich, aber sie liebte mich", erinnert sich Tonya in "The Tonya Tapes". "Er schlägt mich, er liebt mich. So ist das Leben nun mal."

Trotz ihrer von Gewalt geprägten Kindheit und Jugend brilliert sie im Spitzensport. Mit vier Jahren gewinnt sie ihren ersten Wettbewerb. Mit zwölf Jahren gelingt ihr der extrem schwierige dreifache Lutz. Bei den nationalen Meisterschaften 1991 bringt ihr der dreifache Axel den ersten Platz – auch wenn sie in Sachen Grazie und Eleganz angeblich nicht mithalten kann. Für kurze Zeit wird sie in Medien gefeiert, ihr "Anderssein" mit positiver Konnotation in den Vordergrund gestellt. Doch der Hype hält nicht lange an.

Neuer Fokus

Bei den Olympischen Spielen 1992 gelingt ihr der dreifache Axel bei zwei Versuchen nicht, sie wird nur Vierte. Danach probiert sie, ihre Programme nicht um den Sprung herum zu konstruieren, arbeitet mehr an Eleganz und Kunstfertigkeit. "Ich habe immer noch alle Sprünge ohne den dreifachen Axel, und ich habe mehr Stil", sagt sie in einem Interview später in diesem Jahr. "Wenn andere Leute es ohne den dreifachen Axel können, warum kann ich es nicht?"

Bei den US-Meisterschaften 1992 holte Kristi Yamaguchi Gold, Tonya Harding (li.) Silber und Nancy Kerrigan Bronze, bei den Olympischen Spielen wird Harding nur noch Vierte.
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Doch ohne den Sprung scheint sie unten durch zu sein. Aus der Geschichte über den "American Dream" wird eine über den "White-Trash-Lifestyle": Medien fixieren sich auf die Schulabbrecherin, die Arbeitslosigkeit ihrer Eltern, die vielen Ehemänner ihrer Mutter. Tonya Harding raucht, trinkt Bier, spielt Poolbillard, geht auf die Jagd und schraubt gerne an Autos herum. Sie ist muskulös, trägt knalliges Make-up und läuft zu Songs wie Tone Lōcs "Wild Thing", LaTours "People Are Still Having Sex" oder ZZ Tops "Sleeping Bag". Tonyas Outfits näht ihre Mutter aus finanziellen Gründen selbst. Mit anderen Worten: Sie passt nicht in die Vorstellung eines Publikums, das Prinzessinnen sehen will. Und sie passt vor allem nicht in die Vorstellung der Juror:innen, die ihre Leistung bewerten.

Eiskunstlauf ist kein Sport, bei dem die Bewertung für Laien einfach nachvollziehbar ist. Gewinner:in ist nicht, wer am schnellsten läuft oder am höchsten springt. Neben technischer Ausführung zählt etwa auch der "künstlerische Ausdruck" – eine ziemlich flexible Kategorie, in die auch Kostüm oder Aussehen der Läufer:innen einfließen können. Mit anderen Worten: eine eher subjektive Sache.

Konkurrenzdenken

Nancy Kerrigan scheint in dieser zu brillieren. Mit ihrer zierlichen Art und Eleganz bekommt sie schon mal eine höhere Punktezahl, obwohl ihre Sprünge technisch schwächer sind. Auch sie kommt aus einer armen Familie, sie passt sich aber mehr den im Eiskunstlauf (und in der Gesellschaft) vorherrschenden Schönheitsstandards an. Ihre Kostüme kommen von der Designerin und ehemaligen Eisläuferin Vera Wang, die sie ihr gratis schneidert. Kerrigan räumt auch in puncto Werbedeals und Sponsor:innen ab, während Harding mehr oder weniger dauerhaft finanzielle Schwierigkeiten hat.

Über sieben Jahre lang sind Harding und Kerrigan Konkurrentinnen, ständig werden sie verglichen. Auch in Texten aus der jüngeren Vergangenheit wird noch kritisiert, dass Harding "in den Darbietungen das gewisse Etwas" gefehlt habe: "Der Glamour, den Kerrigan versprüht." Immer wieder scheint es, als würden nicht zwei Sportlerinnen, sondern zwei Konzepte von Weiblichkeit gegeneinander antreten.

In der Bewertung der Juror:innen spielt offenbar auch das Privatleben eine Rolle. In den "Tonya Tapes" erzählt Harding, dass sie sich nach ihrer Scheidung 1993 auf Druck des US-amerikanischen Eiskunstlaufverbands (USFSA) wieder mit Jeff Gillooly versöhnt habe. "Wenn ich es in das Olympiateam schaffen wolle, müsse ich mir ein stabiles Leben aufbauen", habe ihr ein USFSA-Vertreter gesagt und gemeint, dies sei mit Gillooly der Fall gewesen.

Kriminelles Komplott

Und Gillooly ist es nun auch, der zusammen mit Shawn Eckardt, Shane Stant und Derrick Smith den Angriff auf Nancy Kerrigan plant und umsetzt. Die Eiskunstläuferin wird am Tag vor den US-Meisterschaften mit einem Schlagstock am Bein getroffen, der Angreifer flüchtet mit dem Kopf voran durch eine Plexiglastür. Sie erleidet starke Schwellungen und Blutergüsse – ihr Knie ist aber nicht betroffen, nach einigen Tagen kann sie wieder trainieren. Obwohl sie wegen ihrer Verletzung nicht an den nationalen Meisterschaften teilnehmen und sich qualifizieren kann, darf sie anschließend ins Olympiateam. So wie Tonya Harding, die bei den nationalen Meisterschaften den ersten Platz holt.

Das auf vielen Ebenen plumpe kriminelle Komplott fliegt schnell auf, die vier Männer werden verhaftet. Schnell sind alle Blicke auf Tonya Harding gerichtet, der unterstellt wird, sie habe ihre Konkurrentin aus dem Weg räumen wollen. Sie leugnet, etwas von den Plänen gewusst zu haben, aber niemand glaubt ihr. Es ist der erste große Skandal dieser Art in der US-Mediengeschichte, TV-Sender berichten rund um die Uhr über den Fall, lassen alle möglichen Menschen zu Wort kommen, auch wenn sie Harding nur entfernt kennen. Ihr wird überall aufgelauert, ihr Zuhause von Presseleuten belagert, die einmal sogar ihr Auto abschleppen lassen, damit sie vor die Tür – und damit vor die Kameras – kommt.

Nach dem Angriff auf Kerrigan will der USFSA Harding die Teilnahme an den Olympischen Spielen im norwegischen Lillehammer 1994 zunächst untersagen, doch weil sie sich rechtlich zur Wehr setzt – und wohl auch mit Blick auf womöglich hohe Einschaltquoten –, darf sie doch teilnehmen. In den Wochen davor fixieren sich Medien noch mehr als zuvor auf die Konkurrenz zwischen den beiden: "Nancy gegen Tonya", "Gut gegen Böse", "die Schöne gegen das Biest", "Eisprinzessin gegen Eishexe".

Nancy Kerrigan und Tonya Harding beim Training bei den olympischen Spielen 1994.
Nancy Kerrigan und Tonya Harding beim Training bei den Olympischen Spielen 1994. Ob und wie viel Harding von dem Komplott rund um die Attacke auf ihre Konkurrentin gewusst hat, ist bis heute unklar.
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Mehr als 126 Millionen Menschen schalten an jenem Tag bei den Olympischen Spielen in Lillehammer, also dem Duell Harding – Kerrigan, ein. Es ist damals die Sportübertragung mit der dritthöchsten Einschaltquote aller Zeiten und die vierterfolgreichste Sendung in der Primetime.

Tonya Harding stürzt zunächst im Kurzprogramm, dann reißt der Schnürsenkel an ihrem Eislaufschuh. Sie darf noch einmal starten, ist aber sichtlich durch den Wind und landet schließlich auf dem achten Platz. Kerrigan wird hinter der Ukrainerin Oksana Baiul Zweite. Wenn Tonya Harding in Medien nicht gerade lächerlich gemacht wird (etwa weil sie zur Melodie von "Jurassic Park" gelaufen ist), dominiert die Geschichte über das "kriminelle Mastermind", das die Attacke gegen Kerrigan von Beginn an in Auftrag gegeben hat.

Tonya Harding veranschaulicht den Juror:innen bei den Olympischen Winterspielen 1994 ihre Probleme mit den Schnürsenkeln.
Tonya Harding veranschaulicht den Juror:innen bei den Olympischen Winterspielen 1994 ihre Probleme mit den Schnürsenkeln – und darf noch einmal starten.
AP

Drei Wochen nach Lillehammer bekennt Tonya Harding sich schuldig, die Justiz behindert zu haben. Sie gibt an, erst nach der Attacke auf Kerrigan davon erfahren zu haben und aus Angst vor Jeff Gillooly nicht zur Polizei gegangen zu sein. Wegen vorsätzlicher Behinderung der Ermittlungen bekommt sie drei Jahre Haft auf Bewährung, muss 500 Stunden gemeinnützige Arbeit leisten und 160.000 US-Dollar Strafe zahlen. Der USFSA erkennt ihr die Titel ab und – wohl die schlimmste Strafe für sie – sperrt sie lebenslang für alle Wettbewerbe. Auf einen Schlag verliert Tonya alles, wofür sie ihr ganzes Leben gearbeitet hat.

Danach versucht sie sich mit öffentlichen Auftritten in queeren Clubs oder bei Sportveranstaltungen über Wasser zu halten. Später versucht sie sich auch als Boxerin und bei "Dancing with the Stars". Doch für ihre eigentliche Leidenschaft hat sie quasi Berufsverbot. Und für ihre Seite der Geschichte, die sie 2008 im Rahmen der "Tonya Tapes" veröffentlicht, interessiert sich zu der Zeit kaum jemand. Erst die Verfilmung "I, Tonya" mit Margot Robbie aus dem Jahr 2017 bringt ihr eine Art historische Richtigstellung und einen Einblick in ein Leben, das von Gewalt und Erniedrigung geprägt war. Ein Detail des Films zeigt besonders deutlich, dass Tonya Harding eine außergewöhnlich talentierte Eiskunstläuferin war: Es konnte kein Stunt-Double gefunden werden, das den "Triple Axel" hinbekommt, der Sprung musste aus mehreren Aufnahmen zusammengeschnitten werden. (Noura Maan, 6.1.2024)