Medienforscher Andy Kaltenbrunner, 2024, ORF
Medienforscher Andy Kaltenbrunner sieht 2024 als entscheidendes Jahr für den ORF.
ÖAW

Wien – 2023 war spannend, 2024 wird entscheidend – zumindest für den ORF. Zu diesem Schluss kommt Medienhaus-Wien-Geschäftsführer Andy Kaltenbrunner im APA-Gespräch. Der öffentlich-rechtliche Medientanker habe mit einer Gesetzesnovelle, spät, aber doch, die Chance erhalten, sein Überleben zu sichern. Für jenes der gesamten Medienbranche seien wiederum öffentliche Förderungen und neben neuen Geschäftsideen die Hinwendung zum Publikum entscheidend, meint der Medienexperte.

2023 war ein durchaus bewegtes medienpolitisches Jahr. Allen voran gab es ein neues ORF-Gesetz, die Ankündigung des Informationsfreiheitsgesetzes, das Aus der "Wiener Zeitung" in Printform, eine neue Qualitätsjournalismusförderung und nicht zuletzt verschärfte Transparenzbestimmungen bei der Inseratenvergabe. Ging all das in die richtige Richtung?

Kaltenbrunner: Die Maßnahmen sind sehr unterschiedlich zu bewerten. Das Informationsfreiheitsgesetz halte ich für einen großen Schritt vorwärts. Genau genommen ist es ein Zivilisationsprozess, der überfällig ist. Nur muss es noch tatsächlich beschlossen werden. Weiter nicht geglückt ist es, eine konvergente Strategie einzuführen. Es gibt Medienförderung für Print, Rundfunk, Online, für Personal in manchen Kanälen oder als digitale Transformationshilfe ohne Digitalmedien und ohne Gründungsförderung: Das alles wird voneinander getrennt betrachtet und bearbeitet. Das ist operativ unsinnig, schafft Förderdoubletten und lässt zugleich große Lücken. Was ich erwarte, ist eine heftiger werdende Debatte, ob diese Fördersummen steigen sollten. Nachdem die Lücken im traditionellen Medienmarkt immer dramatischer anschwellen, wird auch der Druck der Legacy Media immer größer werden, diese Löcher mit öffentlichen Mitteln zu stopfen. Die Frage ist dann aber, ob das lediglich Sterbehilfe ist oder ob ernsthaft Neues unterstützt wird.

Politik und Medien stehen in einem Spannungsverhältnis. Mit wachsenden Förderungen wächst auch die Abhängigkeit ...

Kaltenbrunner: Vollkommen richtig. Aber ohne ökonomische Einmischung durch die Politik wäre ein Großteil des österreichischen Medienmarkts schon jetzt nicht mehr machbar. Direkte Förderungen und öffentliche Inserate als indirekte Förderungen machen bei großen Verlagshäusern zehn, 20, manchmal, etwa bei den Gratisblättern, die ja keine Verkaufserlöse haben, gar 30 Prozent der Umsätze aus. Jetzt haben viele Menschen den Eindruck einer zu starken Symbiose von Politik und Medien. In einigen Fällen haben wir etwa im Inseratensektor in unseren Studien gezeigt: Solche Skepsis ist leider immer wieder mal berechtigt. Immerhin ermittelt sogar die Korruptionsstaatsanwaltschaft in einer einschlägigen Causa gegen einen Ex-Bundeskanzler. Wenn wir unabhängigen Journalismus als ein Rückgrat der Demokratie mit öffentlichen Mitteln stützen, dann braucht es maximale Transparenz von Politik und Medien und ständige gesellschaftliche Diskussion über dieses komplexe Verhältnis.

Im Medienmarkt wird schon kräftig gespart. Nicht nur ein Medienhaus baut Personal ab. Zeichnet sich ein größeres Mediensterben ab?

Kaltenbrunner: Es zeichnet sich nicht ab, es passiert. Ein Viertel der journalistischen Arbeitsplätze ging schon im Jahrzehnt vor der Pandemie verloren. Magazine und Zeitschriften verschwanden oft recht lautlos. Zuletzt wurden die "Wiener Zeitung" und das "Oberösterreichische Volksblatt" 2023 in Printform eingestellt. Das sind zwar nicht die großen Player, aber es zeigt, dass kleinere Medien im traditionellen Druckbereich ökonomisch nicht mehr machbar sind. Eigentlich wären schon jetzt auch viele größere ohne öffentliche Hilfe nicht mehr finanzierbar. Die Frage ist also, ob und welche originäre journalistische Medienproduktion es in Österreich weiterhin geben wird. Dafür muss es wenigstens einigen vorhandenen Playern gelingen, erfolgreich umzustellen. Aber es muss auch viel Neues entstehen, das verwaiste Plätze besetzt – etwa hyperlokaler Journalismus, der in Österreich fast nicht vertreten ist, weil er fast nie gefördert wurde. Es fehlt die Gründerwelle im Kleinen. Eine solche gehört massiv unterstützt. Medienpolitik glaubt zu sehr daran, dass das Alte irgendwie erhalten werden muss. Vielfach wird das nicht funktionieren.

KI ist sicher die große, neue Disruption nach Durchsetzung des Internets. Allerdings stehen wir erst am Anfang, und ich sehe derzeit noch wenig, was Journalismus bereits ernsthaft ersetzen könnte.

Zu all dem schlug auch noch künstliche Intelligenz (KI) 2023 voll am Markt ein ...

Kaltenbrunner: KI ist sicher die große, neue Disruption nach Durchsetzung des Internets. Allerdings stehen wir erst am Anfang, und ich sehe derzeit noch wenig, was Journalismus bereits ernsthaft ersetzen könnte, aber ich wünsche mir viel intelligenten Journalismus, der an KI die richtigen Fragen stellt. Verleger, die hoffen, mit KI viel Geld einzusparen, muss ich enttäuschen. Das ist keine Sparmaßnahme. Im Gegenteil wird der intelligente Einsatz von KI zuerst einmal Geld kosten. Das ist ein Investment zur Verbesserung seiner Wertschöpfungskette in vielen Bereichen.

Das neue ORF-Gesetz und seine Auswirkungen haben die Branche stark beschäftigt. Die neuen digitalen Möglichkeiten des ORF polarisieren die Medienhäuser und die neue Haushaltsabgabe die Bevölkerung. Hat die Regierung richtig gehandelt?

Kaltenbrunner: Heuer wird entschieden, ob wir in zehn Jahren noch einen öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben. Ich habe die vielen gesetzlichen Einschränkungen für den ORF – etwa beim Onlineauftritt – immer für falsch erachtet. Die Regulierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks sollte über Auftrag, Budgets, qualitative Vorgaben erfolgen, nicht über Plattformverbote. Der ORF hat die Aufgabe, die Menschen zu erreichen, wo sie sind. Auch online allerorten. Er erhält jetzt mit Verspätung die Chance, sein Überleben zu sichern, indem er dieses Versäumnis möglichst rasch nachholt. Die Haushaltsabgabe habe ich dabei immer für eine vernünftige Finanzierungsoption gehalten. Der ORF steht jetzt aber doppelt unter Druck, diese nach gleichzeitigem Publikumsverlust auch ganz breit argumentieren zu können. Es verweigert zwar fast niemand ORF-Angebote gänzlich, aber von so manchem hat sich das Angebot doch wesentlich entfernt. Es reicht dann nicht nur gutes Programm im Spagat auf alten und sehr vielen neuen Kanälen, das aber auch erst einmal hergestellt werden muss. Öffentlicher Rundfunk muss besonders gut erklären, warum er nötig ist, dass er streitfähig für alle ist – und nicht zuletzt, dass er ständig lernfähig ist.

Die FPÖ hat bereits angekündigt, die Haushaltsabgabe wieder zurücknehmen zu wollen, wenn sie in die Regierung kommen sollte. Ist das glaubhaft?

Kaltenbrunner: Ich glaube, dass die FPÖ das will, und das ist aus ihrer Sicht verständlich. Der ORF hat sich in den vergangenen Jahrzehnten durchaus unabhängig und sein Journalismus äquidistant zu den Parteien entwickelt. Vielen ist das unangenehm – und der FPÖ besonders. Ich unterstelle, dass diese Partei sehr stark von Emotionen und Polarisierung in der Gesellschaft lebt. Wer eine solche als politische Geschäftsgrundlage hat, will keinen öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Nicht zufällig gibt es in Ländern wie den USA oder Brasilien, die keinen oder sehr schwachen öffentlich-rechtlichen Rundfunk haben, besonders scharfe Konflikte, und die Gesellschaft, wie wir gesehen haben, fällt sogar demokratiegefährdend weit auseinander.

Es braucht weit weniger Stiftungsräte, die dafür mit nachweisbarer Expertise aufwarten, unabhängig sind und nach transparenten Verfahren ausgewählt werden.

Die Regierung muss erneut im Auftrag des Verfassungsgerichtshofs tätig werden. Er hat erkannt, dass die Regierung zu viel Gewicht bei der Bestellung von ORF-Stiftungs- und -Publikumsrat hat. Wie sollte die Reform aus Ihrer Sicht aussehen, und was spricht für und was dagegen, dass sie noch in dieser Regierungsperiode passiert?

Kaltenbrunner: Ich halte es für notwendig, dass die Reform so schnell wie möglich passiert. Es ist ein Auftrag, der in einigen Monaten abgearbeitet werden kann. Ich fürchte aber, es wird nicht passieren. Wahrscheinlich ist ja, dass die Regierung einfach die Zahl der von der Regierung entsandten Stiftungsräte beziehungsweise die Zahl der von der Medienministerin ausgewählten Publikumsräte zurückfährt, sodass sich etwas mehr Ausgewogenheit im Gremium argumentieren lässt. Das allein wäre aber nicht zukunftsträchtig. Es braucht weit weniger Stiftungsräte, die dafür mit nachweisbarer Expertise aufwarten, unabhängig sind und nach transparenten Verfahren ausgewählt werden. Der Publikumsrat könnte dagegen die Zivilgesellschaft sogar noch viel breiter vertreten, indem er größer wird und in neuen Verfahren seine Mitglieder bestimmt. Dass mehr als die Hälfte der Publikumsratsmitglieder derzeit weitgehend freihändig von der Medienministerin ausgewählt werden, ist absurd. Der Publikumsrat wird dann wie leider viele Newsrooms: Er bildet die Gesellschaft immer weniger ab.

Großes Thema im Journalismus, aber auch der Politik ist Vertrauen. Die Inseratencausa rund um Ex-Bundeskanzler Sebastian Kurz und mehrere Boulevardmedien, aber auch Rücktritte von Chefredakteuren bei Qualitätsmedien wegen problematischer Chats mit Personen aus dem Politikbetrieb haben das Vertrauen nicht gerade gestärkt. Wurde von Politik und Medien genug unternommen, um das wieder geradezubiegen?

Kaltenbrunner: Nein, es ist bei weitem nicht genug. Viele Menschen fühlen sich in ihrer Befürchtung bestärkt, dass sehr viele Medien käuflich sind und mit der Politik zusammenarbeiten. Ein kleines Bollwerk ist, dass viele ganz individuell noch seriöse Medienangebote finden, denen sie vertrauen wollen, und sehr viele durchaus differenzieren können, ob etwas qualitätvoll ist oder nicht. Solange das passiert, hat seriöser Journalismus eine Chance. Das Publikum zeigt da oft viel mehr Media Literacy als die Medienpolitik. In unseren jüngsten Befragungen aus November sehen wir, dass das Vertrauen gegenüber Journalismus wieder etwas gestiegen ist. Und wir sehen besonders deutlich, dass viele sagen: "Wir brauchen guten Journalismus ganz dringend." Medien müssen klarstellen, wie sie sich um diese Qualität bemühen, dass sie wirklich unabhängig sind und dass sie mit dem Publikum besonders bei jedem Zweifel daran in ehrlichen Diskurs treten. Wenn das gelingt, hat die Branche eine Chance. Wo das nicht gelingt, sind die Medien angezählt, und auch sehr viel Förderung wird sie nicht retten. (APA, 5.1.2023)