Vorwurf Völkermord: Der Internationale Gerichtshof muss sich mit Israel befassen.
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Es gibt einiges, was man an Israels Vorgehen im Gazastreifen kritisieren könnte – unverhältnismäßiger Einsatz von Gewalt, fehlende Rücksicht auf das Leben von Zivilisten, unzureichende Versorgung der Flüchtlinge. Der Vorwurf des Genozids, der dieser Tage am Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag erhoben wird, geht hingegen völlig ins Leere.

Was immer Israel im Kampf gegen die Hamas bezweckt und tut, zielt sicher nicht auf die "Vernichtung eines bedeutenden Teils des palästinensischen Volkes", wie der Ankläger Südafrika behauptet. Die aggressiven Zitate israelischer Regierungsvertreter, die ein solches Motiv belegen sollen, richteten sich gegen die Hamas, nicht gegen die Palästinenser. Selbst die Verwirklichung der Vertreibungspläne rechtsextremer Minister, von der sich Premier Benjamin Netanjahu jetzt unter Druck der USA distanziert hat, wäre zwar ein Verstoß gegen das Völkerrecht, aber kein Völkermord.

Das Verfahren vor dem IGH ist ein Beispiel dafür, wie der Begriff des Genozids, der 1948 unter dem Eindruck des Holocaust als schwerstes internationales Verbrechen verankert wurde, immer mehr zum Allerweltsvorwurf verkommt. Wo immer Gewalt eingesetzt wird, die eine bestimmte Volksgruppe trifft, wird der Vorwurf des Völkermords laut – und das Wort dabei politisch instrumentalisiert.

Dazu hat in der Vergangenheit auch der IGH beigetragen, indem er etwa das Massaker von Srebrenica von 1995 mit mehr als 8000 Toten als Genozid bewertet und damit den Tatbestand sehr weit gefasst hat – womöglich zu weit. Das heizt bis heute die nationalistischen Emotionen in Serbien an. Noch weniger haben die russischen Verbrechen in der Ukraine, sogar die furchtbaren Morde in Butscha, mit einem Genozid gemein, wie ihn die Nazis an den Juden, die Osmanen an den Armeniern oder die Hutus an den Tutsis begangen haben. Auch dieser von mehreren westlichen Parlamenten erhobene Vorwurf ist rechtlich und politisch höchst fragwürdig.

Es wäre besser, wenn solche Taten als Kriegsverbrechen oder als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", ein ebenfalls nach 1945 entstandener Begriff, bezeichnet würden. Beides ist schlimm genug. Die inflationäre Verwendung von Genozid entwertet das Wort und schwächt damit eine der Errungenschaften des modernen Völkerrechts. Es ist zu hoffen, dass die Richter in Den Haag eine klare Sprache sprechen. (Eric Frey, 11.1.2024)