Fans werden es super finden, das neue Video.
Fans werden es super finden, das neue Video.
HELENA LEA MANHARTSBERGER

Nicht mal ignorieren? Oder doch empören? Vergangene Woche wurde erst ein Teaser zum Video der neuen Solo-Single von Till Lindemann veröffentlicht. Darin ist zu sehen, wie der 61-Jährige eine Frau tritt, seine Hose aufknöpft und sie allem Anschein nach vergewaltigt. Kurz darauf wurde diese Version von Instagram wieder entfernt, dann ging das offizielle, etwas zahmere Video raus – zahmer insofern, als Gewalttaten hier angedeutet und nicht gezeigt werden. Sofort publizierten Medien eilfertig Berichte über die Empörung angesichts des neuen "Schockvideos".

Empörung? Vielmehr müsste man fragen: Geht es noch erwartbarer, noch berechnender? Eine mit Erde verschmierte Frau, die eine Träne vergießt, über ihr Lindemann im Kolonialstil mit weißem Anzug, in kniehohen Lederstiefeln, mit weißem Hut und blonden Dreadlocks (hui, ein Seitenhieb in Richtung Cultural-Appropriation-Kritik? Ach Till, du Schlimmer!).

Fans bekommen, was sie wollen 

Lindemann zieht mit dem Video sein übliches Programm durch, er macht Dienst nach Vorschrift. Übler Kerl und Provokation, das ist Teil des profitablen Geschäftsmodells Till Lindemann. Insofern hat ein Titel wie der der "Bild"-Zeitung zum Video-Release – "Till Lindemann schockt mit Würge-Video" – wohl eine ähnliche Wirkung auf den Verkauf oder das Interesse wie die Beschreibung "verstörend" für einen neuen Lars-von-Trier-Film: Fans bekommen, was sie erwarten und wollen – und alle anderen die Bestätigung, warum sie sich anderen Kulturgütern zuwenden. Ein "Schock!" braucht zumindest irgendein Überraschungsmoment.

Das bedeutet nicht, dass man Sexismus und Frauenverachtung als hehre Kunst getarnt nicht kritisieren sollte. Doch wenn Empörung jenen in die Hände spielt, die davon profitieren, dann muss das Ziel der Kritik justiert werden. Sonst kann sich Lindemann einmal mehr als Mann von teflonartiger Konstitution inszenieren, dem rein gar nichts etwas anhaben kann. Und nicht wenige Fans fühlen sich ganz edgy, weil sie dem angeblichen feministischen Tugendterror wacker Widerstand leisten.

Einkalkulierte Kritik

Kritik muss dahin, wo sie wehtut, und nicht dorthin, wo sie ohnehin einkalkuliert ist. Wir müssen die Justiz kritisieren, wenn sie im Umgang mit möglichen Betroffenen nicht den Forschungsstand über die Folgen von physischer oder psychischer Gewalt berücksichtigt. Wir müssen fragen, warum Schweigen für all die nötig ist, die keine finanziell bedrohliche Widerklage riskieren wollen. Wir müssen sich als seriös bezeichnende Medien kritisieren, die in Talkrunden zu Vorwürfen sexualisierter Gewalt Gäste zum Zweck des gegenseitigen Befetzens einladen anstelle einer Einschätzung mit Mehrwert. Wir müssen die Polizei kritisieren, wenn sie noch immer die falschen Fragen an die stellt, die Anzeige erstatten. Warum sie denn mitgegangen seien, warum sie denn überhaupt etwas getrunken hätten?

Sie alle haben die Aufgabe, für Gerechtigkeit zu sorgen, aufzuklären, Vorwürfe seriös einzuordnen und gesellschaftliche Verhältnisse zu reflektieren. Und auch Till Lindemann hat für sich seine Aufgaben gefunden, und die erfüllt er maximal vorhersehbar. Wie langweilig. (Beate Hausbichler, 15.1.2024)