Protestschild Abtreibung
Nachdem das bundesweite Recht auf Abtreibung im Sommer 2022 gekippt wurde, kam es zu landesweiten Protesten in den USA.
AP/Eric Gay

Patti Daschbach steht an einem kleinen Schreibtisch in der hinteren Ecke ihres Wohnzimmers. Ihr Blick ist auf den PC-Bildschirm gerichtet. In Sekundenschnelle wechselt sie zwischen zig geöffneten Chatfenstern, zwischendurch blitzen die Websites von Uber und Google Maps auf. "Wenn mich Leute fragen, wo ich arbeite", erzählt sie, während ihre Finger über die Tastatur rasen, "dann sage ich: in einem Reisebüro für Abtreibungen."

Auf Daschbachs Schreibtisch liegt ein Buch mit dem Titel "What is an abortion, anyways?". Ihr T-Shirt trägt in lila Blockbuchstaben die Aufschrift "Abortion is normal". Sie ist eine von acht Angestellten, die in Chicago für den Abtreibungsfonds Midwest Access Coalition (MAC) arbeiten. Der Fonds organisiert und bezahlt die An- und Abreise zum Abtreibungstermin, stellt Essensgeld und Kinderbetreuung zur Verfügung. Während unseres Gesprächs bestellt Daschbach ein Uber für eine Klientin. Es ist eine von 50 bis 100 Anfragen, die MAC täglich erreichen. Vor drei Jahren betreute der Fonds noch fünf bis sieben Klientinnen pro Woche.

Mit dem Fall des bundesweiten Rechts auf Abtreibungen im Rahmen von Roe v. Wade im Sommer 2022 änderte sich alles. 14 Bundesstaaten, darunter die meisten Südstaaten, setzten seither ein nahezu vollständiges Abtreibungsverbot um. Etliche republikanisch regierte Bundesstaaten erließen strengere Abtreibungsgesetze. 22 Millionen Frauen im gebärfähigen Alter leben nun in einem Bundesstaat, in dem Abtreibung kriminalisiert wird. Die durchschnittliche Reisezeit zur nächstgelegenen Abtreibungsklinik hat sich verdreifacht.

Illinois, die "blaue Oase"

Angesprochen auf den Sommer 2022 stockt Daschbach. Ihre Stimme ist belegt. "Es war niederschmetternd. Wir wurden von Anrufen überflutet." Das erste Mal in seinem achtjährigen Bestehen musste der Fonds seine Hotline offline nehmen. Seither passiert das regelmäßig. Meist sind die Kapazitäten Mitte der Woche erschöpft.

Die Abtreibungskliniken in Illinois erwarteten nach dem folgenschweren Urteil des Obersten Gerichtshofs einen regelrechten Ansturm. Der Bundesstaat im mittleren Westen der USA ist umringt von Staaten mit restriktiven Abtreibungsgesetzen. Einige davon zählen zu den strengsten des Landes. Ein Umstand, der dem demokratisch regierten Illinois den Spitznamen "blaue Oase" einbrachte. Bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, also meist der 24. bis 26. Schwangerschaftswoche, sind Abtreibungen dort erlaubt.

Illinois verzeichnet den bei weitem größten Anstieg an Patientinnen, die für einen Schwangerschaftsabbruch aus einem anderen Bundesstaat anreisten. Allison Cowett erlebt diese Auswirkungen direkt mit. Sie ist die medizinische Leiterin der Family Planning Association (FPA), einer der größten unabhängigen Abtreibungsklinken in Illinois. "Wir betreuen mittlerweile doppelt so viele Patientinnen aus anderen Bundesstaaten wie vor dem Sommer 2022", erzählt die Ärztin.

Vulnerable trifft es am härtesten

Viele davon haben ihren Heimatstaat davor noch nie verlassen. "Ich habe so viele Frauen gesehen, die noch nie in einem Flugzeug gesessen sind. Die noch nie in einer großen Stadt waren. Die aus Texas mit dem Auto und ihren Kindern auf dem Rücksitz anreisen." Die längste Strecke für eine Abtreibung hätten bisher Patientinnen aus Südtexas zurückgelegt. Die Distanz nach Chicago beträgt rund 2.000 Kilometer, eine Autofahrt dauert über 15 Stunden. Manchmal ist Chicago aber auch wegen der vielen direkten Flugverbindungen besser zu erreichen als eine nähergelegene Abtreibungsklinik.

Die geografische Distanz ist nicht die einzige Hürde, die viele Patientinnen überwinden müssen. Acht von zehn Klientinnen seien Geringverdienerinnen, erzählt Cowett. Jene, die unter der Armutsgrenze lebten, die schwarz oder queer seien, treffe es am härtesten. Laut der NPO Planned Parenthood bräuchten mittlerweile doppelt so viele Patientinnen finanzielle Unterstützung für ihre Abtreibung wie vor dem Fall von Roe v. Wade.

Auch das Stigma rund um das Thema Abtreibung belastet viele Frauen. "Sie haben oft niemanden, dem sie sich anvertrauen können", weiß Daschbach durch ihre Arbeit beim Abtreibungsfonds MAC. Manche ihrer Klientinnen seien minderjährig und reisten für eine Abtreibung allein in einen anderen Bundesstaat. "Dann stehe ich auch um drei Uhr in der Früh auf, um bei ihnen nachzufragen, ob alles in Ordnung ist." Viele verfügen über keinen unmittelbaren Zugang zu Transportmitteln.

Mit dem Privatflugzeug zur Abtreibung

"Für jede Person in den USA, die im ländlichen Raum wohnt und kein Auto besitzt, ist es ein Albtraum, irgendwo hinzukommen", erklärt Daschbach. Eine Klientin sei nur zwei Stunden Autofahrt von der nächstgelegenen Klinik entfernt gewesen. "Sie hatte aber kein Auto und war in einer gewaltvollen Beziehung. Sie konnte es niemandem sagen." Mit dem Bus und dem Taxi sei sie schließlich zu ihrem Termin gekommen. Die gesamte Reise dauerte drei Tage.

Mit solchen Fällen ist auch Mike* vertraut. Er ist Hobbypilot und arbeitete bis 2021 freiwillig für MAC. In diesem Jahr erlässt Texas, der zweitgrößte Bundesstaat der USA, das strengste Abtreibungsgesetz des Landes. Das bringt Mike auf die Idee, seine Freizeitbeschäftigung zu nutzen, um Frauen zu ihrem Abtreibungstermin zu fliegen. Er gründet die NGO Elevated Access (EA), für die mittlerweile Hobbypilotinnen und Hobbypiloten aus ganz Amerika Frauen zu ihrer Abtreibung fliegen. "Die Anfragen steigen wöchentlich", sagt Fiona*, Sprecherin von EA. Die meisten davon kämen immer noch aus Texas.

Das Angebot nutzen etwa jene, für die kommerzielle Flüge nicht infrage kommen, weil sie keine Ausweisdokumente haben. Jene, die im ländlichen Raum wohnen, die ihre Abtreibung verheimlichen müssen oder sich nicht einfach mehrere Tage freinehmen können. Meist seien Hin- und Rückflug am selben Tag möglich. "Hat man soziale Ressourcen und Geld, braucht man uns nicht", stellt die Sprecherin der NGO fest.

Tausende Kilometer für fünf Minuten

Das System funktioniere deshalb so gut, weil Privatflüge in den USA schwach reguliert seien. "Amerika ist der Geburtsort der Luftfahrt. 19.000 Flughäfen gibt es im ganzen Land, viele davon sind öffentlich. Wir können so ziemlich überall zu jeder Zeit landen und starten", erläutert Fiona. Für den längsten Flug, den EA jemals durchgeführt habe, seien drei Piloten pro Richtung im Einsatz gewesen. Er reichte über eine Distanz von mehr als 3.200 Kilometern. Das ist vergleichbar mit einem Hin- und Rückflug von Wien nach Valencia.

"Niemand sollte so lange Distanzen zurücklegen müssen für einen chirurgischen Eingriff, der nur fünf Minuten dauert und minimale Risiken birgt", kritisiert Cowett, die auch selbst Abtreibungen in der FPA durchführt. Gefährlich werde es für jene, die nach dem Abtreibungstermin in einen restriktiven Bundesstaat zurückmüssten. Wenn es dort zu Komplikationen wie starken Blutungen oder Fieber komme, könne die FPA zwar telefonisch helfen. Im schlimmsten Fall müsse man aber zum Arzt oder ins Krankenhaus. Dann komme es immer wieder vor, dass medizinisches Personal die Polizei rufe. "Jede Person, die schwanger ist und blutet, kann in einem restriktiven Bundesstaat eines Verbrechens beschuldigt werden. Dabei ist sie vielleicht einfach nur schwanger und blutet."

In Bundesstaaten, in denen Abtreibung kriminalisiert wird, verschlechtert sich auch die medizinische Versorgung für Schwangere. Viele Gynäkologinnen und Gynäkologen verlassen solche Staaten, weil sie nicht mehr im Rahmen der Standardversorgung praktizieren können. Einem Expertenbericht zufolge haben Frauen in Staaten mit Abtreibungsverboten ein fast dreimal höheres Risiko, während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder kurz nach der Geburt zu sterben. 2023 erreichte die Müttersterblichkeit in den USA einen neuen Höchststand und stieg auf den gleichen Wert wie vor 60 Jahren.

Falsche Kliniken

Den Überblick darüber zu behalten, was im aktuellen rechtlichen Rahmen erlaubt ist und was nicht, ist schwer. "Wir haben 50 Staaten mit 50 unterschiedlichen Abtreibungsgesetzen", erzählt die Anwältin Rachel Johnson von der Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU). "Es ist fast unmöglich, auf dem Stand der Dinge zu bleiben. Seit dem Fall von Roe v. Wade werden bundesweit extrem viele Gesetzesentscheide mit extrem großen Auswirkungen in extrem kurzer Zeit gefällt." Das führe zu Verwirrung und Verunsicherung. Ein Umstand, der Abtreibungsgegnern in die Hände spielt.

Eine Klientin wurde vom Personal der FPA darauf hingewiesen, dass sie die Reise nach Illinois nicht hätte antreten müssen. Die Abtreibung wäre in ihrem Bundesstaat legal gewesen. Cowett glaubt, dass sie dort zuvor in einem sogenannten Crisis Pregnancy Center gewesen sei. Das sind als Abtreibungskliniken getarnte Einrichtungen, die von Abtreibungsgegner:innen geleitet werden. Ihr Internetauftritt ist schwer von jenem echter Abtreibungskliniken zu unterscheiden – und ihre Mission ist es, Patientinnen von Abtreibungen abzuhalten. Dafür werden gezielt Falschinformationen verwendet.

"Das Problem ist, dass sie von dem Recht auf Redefreiheit und Religionsfreiheit geschützt sind – und sich auch auf jenes berufen", erklärt Johnson. "Wir sehen vor Gericht immer wieder, dass das Recht auf Religionsfreiheit über jedes andere Bürgerrecht gestellt wird." In Illinois wurde 2023 ein Gesetz erlassen, dass Crisis Pregnancy Centern den Einsatz von Falschinformationen verbietet.

Falsche Hoffnung

Es ist Freitag, gegen zehn Uhr vormittags. Rund dreißig Meter vom Eingang der FPA entfernt stehen vier Personen in korallenfarbenen T-Shirts mit der Aufschrift "Hope is Here". Das sind vergleichsweise wenige. Laut der Leiterin der Klinik kommen manchmal mehrere Dutzend Teilnehmende zu den wöchentlichen Protesten der Abtreibungsgegner:innen. "Wir sind keine Demonstranten. Wir verbreiten die Nachricht Gottes", erklärt Juan, einer der Hauptorganisatoren. Er gehört zur Pfingstkirche "Metro Praise". Auch andere religiöse Bewegungen sind vertreten, unter anderem "Love Life". Die Organisation mobilisiert Kirchenmitglieder, um sich gegen Abtreibungen einzusetzen. Die Abtreibungsgegner:innen verteilen Flyer, die Crisis Pregnancy Center als Anlaufstellen bewerben.

Als eine Klientin vorbeigeht, reden die Abtreibungsgegner:innen eindringlich auf sie ein, rufen ihr zu, dass sie das nicht tun müsse. Flankiert wird sie von Freiwilligen in Warnwesten, die sie bis zum Eingang der Abtreibungsklinik begleiten. "Eine schwangere Mutter soll ihr Kind so lange behalten wie möglich. Auch wenn sie krank ist oder durch die Schwangerschaft in Lebensgefahr gerät. Sie soll auf Gott vertrauen", erläutert Juan. Im Notfall könne man einen Notkaiserschnitt machen. "Auch wenn das Kind im Bösen durch eine Vergewaltigung gezeugt wurde. Der Vergewaltiger sollte bestraft werden, nicht das Baby. Gott liebt Babys. Abtreibung ist eine Sünde." Vom Schutz der Mutter ist keine Rede.

Politische Kontroverse

In kaum einem anderen Land wird das Thema Abtreibung so stark öffentlich diskutiert wie in den USA. Und kein anderes Thema könnte für die republikanischen Präsidentschaftskandidaten im Wahljahr 2024 heikler werden. Trump ernannte jene Höchstrichter, die den Fall von Roe v. Wade möglich machten. Bisher hat er keine Aussage dazu gemacht, ob er auch ein nationales Abtreibungsverbot unterschreiben würde.

Denn jede der sieben bundesstaatlichen Abstimmungen über reproduktive Rechte seit dem Fall von Roe v. Wade haben Abtreibungsbefürworter für sich entschieden – auch in konservativen Staaten wie Ohio, Kansas und Kentucky. Rund 70 Prozent der US-Amerikanerinnen und Amerikaner gaben in einer Umfrage von Reuters im November 2023 an, dass der legale Zugang zu Abtreibungen ihre Stimmabgabe im November stark beeinflussen werde. Die Demokraten haben bereits angekündigt, Abtreibungsrechte zum zentralen Thema ihres Wahlkampfs zu machen.

Solange sich an der Besetzung der Höchstrichter nichts ändert, könnte eine Verbesserung der aktuellen Situation jedoch schwierig werden. "Die Gerichte betreiben Rosinenpickerei in der amerikanischen Geschichte, die eigentlich in dem Streben nach Freiheit und Autonomie verwurzelt ist. Trotzdem wird das Recht auf körperliche Selbstbestimmung immer wieder zurückgestellt", sagt die Bürgerrechtsanwältin Johnson. Sie selbst gebe die Hoffnung aber nicht auf. "Die Mehrheit der Menschen in den Vereinigten Staaten befürwortet ein Recht auf Abtreibung. Ich hoffe, dass sie wählen, damit unsere Gesetze dies widerspiegeln können." (Helene Dallinger aus Chicago, 19.1.2024)