Der ORF hat bei deutschen Medienwissenschaftern ein Gutachten darüber in Auftrag gegeben, wie sich eine Einstellung von ORF.at auf andere Medien auswirken würde. Der Zeitungsverband VÖZ zeigt sich "verwundert, dass der ORF Gebührengelder für derartige hypothetische Untersuchungen einsetzt". Schießlich ermögliche das gerade in Kraft getretene ORF-Gesetz "ein weites Betätigungsfeld im Digitalbereich, das im vergangenen Jahr noch zusätzlich ausgeweitet wurde". Den Ergebnissen – es gäbe nur marginale Auswirkungen zugunsten von Bezahlangeboten von privaten Medienunternehmen – widersprächen Untersuchungen etwa des deutschen Zeitungsverbands.

ORF ließ Gutachten erstellen, was wäre, wenn ORF.at nicht mehr wäre.
ORF ließ Gutachten erstellen, was wäre, wenn ORF.at nicht mehr wäre.
ORF.at Screenshot

Nutzungsmotive untersucht

Die Medienökonomen Christian Zabel (Technische Hochschule Köln) und Frank Lobigs (Technische Universität Dortmund) haben im Auftrag des ORF schon 2022 ein Gutachten erstellt, wonach Werbebeschränkungen für den öffentlich-rechtlichen und weitaus größten österreichischen Medienkonzern vor allem internationalen Digitalkonzernen nützen würden. Zusammen mit ihrem Kölner Kollegen Daniel O'Brien untersuchten sie nun für den ORF "Effekte des Marktaustritts von öffentlich- rechtlichen Online-Nachrichtengeboten auf den Absatz von digitalem Paid Content", eine Zusammenfassung wurde nun im ARD-Forschungsdienst "Media Perspektiven" veröffentlicht.

Für die Studie wurden demnach 1.100 Menschen, repräsentativ für die österreichische Bevölkerung ab 14, befragt nach Nutzungsmotiven für Onlineangebote, eine sogenannte Choice-Based-Conjoint-Analyse (CBCA). Die drei Studienautoren kommen zum Schluss: "Gäbe es die blaue Seite nicht, würden gerade nicht die digitalen Zahlabonnements der Zeitungsverlage profitieren, sondern die bereits heute reichweitestarken kostenfreien Anbieter." Profitieren würden vor allem Onlineangebote von anderen Anbietern als klassischen Medienhäusern, schlussfolgert die Studie.

Eine Preisfrage

Mit Abstand die größte Rolle bei der Entscheidung über die Nutzung von Onlineangeboten spiele mit fast 60 Prozent Nennung bei den Befragten der Preis des Angebots, das entspreche auch den Ergebnissen anderer Studien. Die Studie simulierte nun mithilfe der Daten einen "Marktaustritt" von ORF.at. In dieser Simulation wurden die Nutzungsmotive für Online-Nachrichtenangebote von Printmedien und anderer Player getrennt und sehr differenziert abgefragt und ausgewertet. In dieser Simulation würden – laut mit der Studie veröffentlichter Grafik – kostenlos zugängliche Online-Nachrichtenangebote mit Werbefinanzierung dann ihren Marktanteil um 34 Prozent steigern können. Werbefinanzierte Onlineangebote von Printmedienhäusern um gut 31 Prozent. Onlineangebote mit eingeschränkt freiem Zugang von Printmedienunternehmen würden um gut 21 Prozent zulegen können.

Die Studienautoren fassen die Erkenntnisse ihrer Simulation mit Fokus auf Onlinebezahlangebote von Printmedienhäusern so zusammen: "Printanbieter mit zugriffsbeschränkten Angeboten könnten lediglich rund vier Prozentpunkte der Nachfrage zusätzlich gewinnen. Davon würde die knappe Hälfte auf eingeschränkte, aber kostenfreie Angebote vor der Paywall entfallen. Insgesamt verschieben sich in der Marktsimulation also lediglich 1,5 Prozentpunkte der Nachfrage zusätzlich auf kostenpflichtige Optionen. Im Effekt könnten also nur sieben Prozent der 'umverteilten', ehemals an die blaue Seite gebundenen Nachfrage auf Bezahlangebote verlagert werden; 93 Prozent flössen indes an andere Angebote."

Die Studienautoren kommen zum Schluss: "Gäbe es die blaue Seite nicht, würden gerade nicht die digitalen Zahlabonnements der Zeitungsverlage profitieren, sondern die bereits heute reichweitenstarken kostenfreien Anbieter."

"Ergebnis spiegelt Position des ORF wider"

"Selbstverständlich ist es dem ORF unbenommen, Studien zu beauftragen", erklärt der Zeitungsverband VÖZ auf Anfrage dazu: "Das Ergebnis spiegelt die Position des öffentlich-rechtlichen Rundfunks wider."

Der Verband hält dem Untersuchungen entgegen, "die Anlass zu einer gegenteiligen Interpretation geben: So hat etwa unser deutscher Partnerverband BDZV im vergangenen Jahr eine repräsentative Erhebung durchgeführt, die unter anderem belegt, dass 40 Prozent der User ihr Onlinenutzungsverhalten ändern und auch digital und gedruckt mehr Presse nutzen würden, wenn es das öffentlich-rechtliche Textangebot in dieser Form nicht gäbe."

"Einigermaßen verwunderlich" findet man beim österreichischen Zeitungsverband, "dass der ORF die Gebührengelder für derartige hypothetische Untersuchungen einsetzt, da das ORF-Gesetz ein weites Betätigungsfeld im Digitalbereich ermöglicht, das im vergangenen Jahr noch zusätzlich ausgeweitet wurde".

ORF.at war ein zentraler Streitpunkt bei den Verhandlungen über das – Mitte 2023 beschlossene – ORF-Gesetz. Eine Einstellung von ORF.at schlug etwa – plakativ – Neos-Mediensprecherin Henrike Brandstötter in einem "Profil"-Gastbeitrag vor. Der Zeitungsverband verlangte Einschränkungen des Textangebots, das allzu "zeitungsähnlich" sei und nicht der von Gesetz und EU verlangten Überblicksberichterstattung entspreche. Das neue ORF-Gesetz limitiert Textmeldungen auf 350 pro Woche, sie dürfen 30 Prozent der Inhalte der blauen Seite ausmachen, 70 Prozent müssen Videobeiträge ausmachen. Private Medienunternehmen legten inzwischen Wettbewerbsbeschwerden gegen das neue ORF-Gesetz bei der EU ein. Die Beschränkungen und die Praxis entsprächen nicht den EU-Vorgaben. ORF-General Roland Weißmann wies die Vorwürfe zurück, ORF.at entspreche den gesetzlichen Vorgaben. (fid, 16.1.2024)