Gregor Samsa (Paulina Alpen), wie er in Lucia Bihlers Inszenierung eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte
Gregor Samsa (Paulina Alpen), wie er in Lucia Bihlers Inszenierung eines Morgens aus unruhigen Träumen erwacht ist.
Marcella Ruiz Cruz

Die Hauptfigur in Franz Kafkas Erzählung Die Verwandlung (1912) wird eines Morgens auf unvorstellbare Weise ausgebremst. Eigentlich hatte der Handlungsreisende Gregor Samsa geplant, frühmorgens eine Bahnfahrt anzutreten, doch das wird ihm infolge der nächtlichen Mutation zu einem Käfer verunmöglicht. Das Faktum steht gleich im ersten Satz: Samsa findet sich "in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt".

Was hat es mit dieser Tierwerdung auf sich? Zumal Gregor diese Existenzform zwar körperlich unbeholfen, aber ohne panische Gemütsregung betrachtet? Vieles ist denkbar. In Gregors neuer Gestalt kommt zweifellos eine markante Entfremdung zum Ausdruck sowie ein dadurch ausgelöstes Kappen der Arbeits- wie der Familienverbindungen. Denn was will man daheim wie im Job mit einem Rieseninsekt anstellen?

Burgtheater Wien

Lucia Bihler lässt sich in ihrer Inszenierung im Akademietheater wohlweislich auf keine Käfer-Darstellung ein, sondern zeigt den jungen, noch bei seiner Familie (Philipp Hauß als Vater, Dorothee Hartinger als Mutter, Stefanie Dvorak als Schwester) wohnhaften Gregor trotz Handicaps als Mensch. Einzig ein riesiger Buckel schiebt die Schultern seines orangefarbigen Fracks unnatürlich weit in die Höhe. Ansonsten ist dieses Wesen in der Verkörperung von Paulina Alpen über alle Maßen biegsam und beweglich. Oftmals stiebt es wie ferngesteuert von der Bettkante und scheint – verständlicherweise – mit den Dimensionen des Zimmers überfordert zu sein. Dennoch bleibt Gregor als Mensch lesbar, der nur keine Sprache der Worte mehr hat.

Wie schon bei Die Jagdgesellschaft (2021) oder dem zuletzt durch eine Einladung zum Berliner Theatertreffen geadelten Die Eingeborenen von Maria Blut (2023) ist die Ausstattung in Bihlers Arbeit wieder opulent und bestimmend. Bühnenbildnerin Pia Maria Mackert entwarf hier ein Zuhause ganz im Zuschnitt und in der Farbpracht des expressionistischen Malers Ernst Ludwig Kirchner, eines Kafka-Zeitgenossen. Gregor Samsas Zimmer ähnelt im Akademietheater also den Interieurs und verzerrten Raumdimensionen aus dessen Gemälden. Auch die Gesichter tragen unter den akkurat ondulierten Häuptern expressionistische Augenschatten.

Horizontal Geige spielen

Bett, Nachtkästchen, Schreibtisch, Stuhl, zwei Gemälde (im Stile Kirchners, haha) ergeben Gregors heimeliges "Gefängnis". Bihler setzt Gregors Lage nach allen Regeln der Kunst ins Bild: Einmal minimiert sie den Raum nach dem Matrjoschka-Prinzip (Gregor tritt hierbei in Handpuppengröße auf), ein andermal dreht sie in die Vogelperspektive, sodass Dvorak als Grete ihre Violine in horizontaler Lage zu spielen hat.

Grete getraut sich noch am ehesten in das Zimmer ihres verunstalteten Bruders, aber auch sie ist wie ihre Eltern zunehmend angewidert. Und hier gibt Bihler, die u. a. Nebenfiguren aus der Textvorlage gestrichen hat, mit einigen Sätzen aus Bruno Latours Lockdown-Buch Wo bin ich? (2021)der Lage einen Twist. Denn in ein paar Sätzen wertet sie weniger die Existenz als Schabe denn vielmehr die egoistischen Menschen als das wahre Monströse.

Bald schon nämlich sinniert die Familie darüber, wie sie "es", also Gregor, loswerden könnte. Und wie aussichtsreich es sein wird, obwohl die Mitglieder bisher einzig von Gregors Einkünften gelebt haben, fürderhin ohne ihn weiterzuleben.

Malerische Couture

In der Inszenierung beeindrucken die bildnerischen Entwürfe, etwa die malerische Couture der Familie samt ihrer großen Puppenköpfe (Kostüme: Victoria Behr). Allerdings lässt Bihler wenig Zeit für deren Betrachtung und führt in ein für die Wirkmächtigkeit von derlei Kunstfiguren unnötig hektisches Spiel, das zusätzlich durch die Erzählhandlung außerhalb des Bildrahmens allmählich betriebswütig wird.

Als Erzähler fungiert eine Figur namens Franz Kafka (Jonas Hackmann) selbst, der mit anderen Erzählerinnen und Geräuschemachern viele Male vom Mikrofon an der Rampe durch die schwarze Tapetentür in die Bildwelt hinein und wieder heraus wechselt. Mit dieser strapazierten Erzählrahmung verbürokratisiert Bihler ihre Inszenierung, denn diese mindert zunehmend das Vergnügen an der Wahrnehmung dieser von ihr sonst so beherrschten magischen Realität an diesem 90-minütigen Abend. (Margarete Affenzeller, 22.1.2024)