Gefangen im Kreislauf der Gewalt. Im Nahen Osten werden die Fronten immer unübersichtlicher.
REUTERS/MUSSA ISSA QAWASMA

Trümmerlandschaften. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hat man gesehen, wie schnell sich, wo einst Menschen gewohnt haben, Skelette von Gebäuden, Ziegelhaufen ausbreiten. Die Bilder aus Aleppo, wo die Bombardierungen des syrischen Regimes und Russlands ganze Stadtteile in Ruinen verwandelt haben, hatten wir fast vergessen. Dem derzeitigen Krieg Israels im Gazastreifen ist am 7. Oktober 2023 eine beispiellose Aggression der Terrororganisation Hamas gegen israelische Ortschaften vorangegangen. Dennoch packt einen das existenzielle Erschrecken angesichts so großer Zerstörung und so großen menschlichen Leids bei den Palästinensern in der Folge davon.

Und da ist dann auch noch die Angst davor, dass sich der Krieg ausbreitet: dass jene radikalen Kräfte in der Region, die bisher davor zurückschreckten, sich für die Hamas voll in die Schlacht zu werfen – und vielleicht darin unterzugehen –, das doch noch tun. Oder dass sich Dynamiken entwickeln, die niemand mehr kontrollieren kann.

Es gibt Fronten, an denen Israel direkt angegriffen wird, aber es gibt auch Konfliktherde, die andere, oft lokale Gründe haben. Es gibt unbeachtete schreckliche Kriege wie jenen im Sudan. Meist haben sie, vielleicht erst auf den zweiten Blick, Verbindungen zu den anderen. Die ganze Region ist im Modus eines Kulturkampfs. Auch der israelisch-palästinensische Konflikt ist einer, wenngleich er als einer um Land, Nation, Grenzen, Souveränität begonnen hat.

Die offenen Fronten

· Westjordanland Dass am 7. Oktober der Gazastreifen so schlecht gesichert und Israel so schlecht vorbereitet war, war auch eine Folge der wachsenden Spannungen im Westjordanland. Sie wurden verursacht durch die – von der israelischen Rechtsregierung geförderte – Radikalisierung israelischer Siedler und das Aufkommen neuer palästinensischer bewaffneter Gruppen, die sich der Kontrolle der palästinensischen Behörden entziehen. Die Hoffnungen der Hamas, dass sich das Westjordanland zu Beginn des Kriegs in einer offenen Intifada erheben würde, haben sich jedoch bisher nicht erfüllt, obwohl die Hamas momentan im Westjordanland höhere Sympathiewerte als im Gazastreifen hat. Israel greift mit eiserner Hand durch.

· Hisbollah im Libanon Die schiitische Miliz und Partei Hisbollah im Libanon ist die wichtigste Stellvertretergruppe des Iran. In Syrien führt sie seit Jahren zum Schutz des Assad-Regimes Krieg: Dort hat sie militärisch viel gelernt, wurde vom Iran massiv aufgerüstet – sie hat aber auch Verluste erlitten.

In seinen Reden betont Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bisher die "palästinensische Eigentümerschaft" des Hamas-Kampfs gegen Israel. Trotz der Hisbollah-Raketenschläge in Nordisrael und trotz israelischer Gegenschläge – zuletzt auch gegen einen Hamas-Führer unter Hisbollah-Schutz und gegen hohes Hisbollah-Personal – ist kein offener Krieg erklärt. Das liegt auch an den US-Drohgebärden. Die Entscheidung, ob die Hisbollah in einen Krieg eintritt, liegt in Teheran. Das heißt, es geht letztlich auch um eine US-iranische Eskalation. Aber auch in Israel wird laut darüber nachgedacht, parallel zur Hamas die Hisbollah zu zerstören. Die USA warnen vor Überdehnung.

· Huthis im Jemen Die vom Iran unterstützten Huthi-Rebellen, seit fast zehn Jahren Herren in Sanaa, haben sich als die Wild Card auf Hamas-Seite erwiesen. Sie erklärten Israel den Krieg. Mit ihren Raketen und Drohnen könnten sie Israel jedoch nur innerhalb eines Mehrfrontenkriegs ernsthaft schädigen. Also greifen die Huthis Schiffe im Roten Meer – auf der wichtigsten Route zwischen Asien und Europa – an und sind zum Problem für die Weltwirtschaft geworden. Sogar Russland und China haben ihre Verurteilung durch den Uno-Sicherheitsrat zugelassen, auch arabische Wirtschaften – Stichwort Ägypten, Suezkanal – sind geschädigt. Aber die Huthis sind die Champions der arabischen Straße. Eine US-geführte Koalition führt Luftschläge gegen sie, ein militärischer Aderlass, aber auch eine gute PR für sie.

· Iran-treue Milizen im Irak und in Syrien Der Kampf Iran-treuer Milizen gegen die Präsenz von US-Militärs im Irak ist nicht neu und hatte 2020 schon einmal kräftig angezogen. Damals hatten die USA den iranischen Revolutionsgardengeneral Ghassem Soleimani und den irakischen Milizenführer Abu Mahdi al-Mohandes in Bagdad aus der Luft getötet. Nach dem israelischen Angriff am Samstag in Damaskus (siehe unten) geriet die Al-Assad-Militärbasis (der Name hat nichts mit dem syrischen Regime zu tun) im Westirak unter schweren Raketenbeschuss. Aber schon seit dem Beginn des Gaza-Krieges häufen sich die Angriffe, nicht nur im Irak, sondern auch in Syrien, wo die USA auch noch ein paar Hundert Soldaten stationiert haben. Dort sind die USA, anders als im Irak, nicht in Absprache mit der Regierung. Vergangene Woche griff jedoch der Iran selbst sowohl im Irak als auch in Syrien an, aber nicht die USA direkt (s. unten).

· Israelische Militärschläge in Syrien Auch sie gibt es seit Jahren, sie gelten der iranischen und der Hisbollah-Präsenz. Aber mittlerweile sind sie auch gezielt gegen Personen gerichtet: Ende Jänner wurde ein Revolutionsgardengeneral getötet, am Samstag mitten in Damaskus mindestens vier hohe iranische Berater, darunter der Chef des iranischen Geheimdienstes in Syrien. Für die israelischen Militärschläge ist ein stilles israelisches Einvernehmen mit Syriens Schutzmacht Russland nötig, was Jerusalems Positionen im Ukrainekrieg oft zum Eiertanz machte. Mit dem Krieg im Gazastreifen ist es noch viel schwieriger geworden. Palästinensische Kräfte suchen seit jeher die Nähe zu Moskau und werden dort unterstützt, das israelisch-russische Verhältnis hat sich verschlechtert.

Latente und akute Gewalt

· Iran in Nordirak und Syrien Vergangene Woche beschoss der Iran Ziele in der irakisch-kurdischen Hauptstadt Erbil und im syrischen Idlib mit Raketen. Offiziell waren es Vergeltungsschläge für das Attentat des "Islamischen Staats" Anfang Jänner in Kerman. Aber der Iran machte sich nicht viel Mühe, die wahren Adressaten zu verbergen. Im Nordirak sei heimlich der Mossad stationiert, und mit der Stadt Idlib wählte Teheran ein Ziel, das demonstriert, dass Israel in Reichweite iranischer Raketen liegt. Die Einschläge in Erbil fanden in der Nähe des US-Konsulats statt. Die iranischen Entscheidungen scheinen erratischer zu werden, das deutet auf einen Richtungsstreit in der Führung hin.

· Iran und Pakistan Auch Ziele in Pakistan hat der Iran letzte Woche angegriffen: nach eigenen Angaben die belutschisch-sunnitische Terrorgruppe Jaysh al-Adl (Heer der Gerechtigkeit), die im Iran Attentate verübt. Pakistan antwortet mit Gegenschlägen. Begründung: belutschische Separatisten, die vom Iran aus Pakistan angreifen. Der strategische Nutzen des iranischen Verhaltens ist Beobachtern ein Rätsel, offenbar ist die Lust auf Eskalation bei einem Teil der Revolutionsgarden groß.

· Türkei in Nordirak und Syrien Auch der alte Konflikt zwischen der Türkei und der PKK hat angezogen: Die Türkei greift PKK-Rückzugsorte im kurdischen Nordirak an, in Syrien rechnet sie die YPG-Milizen, die von den USA in ihrem Kampf gegen den "Islamischen Staat" unterstützt werden, pauschal zur türkisch-kurdischen Terrororganisation. Das ist ein Spannungsfeld zwischen Ankara und Washington, aber auch zwischen Ankara und Moskau.

Zwischen Politik und Kriminalität

· Drogenkrieg zwischen Jordanien und Syrien Auch diese Woche gab es wieder Tote an der syrisch-jordanischen Grenze: Die Jordanier kämpfen dort gegen den Schmuggel mit der Droge Captagon, die den Nahen Osten geradezu überschwemmt. Damit finanziert sich das Assad-Regime. Die Hoffnung der Araber auf Verbesserung, wenn Syrien wieder in die Arabische Liga integriert wird – im Sommer 2023 vollzogen –, hat sich nicht erfüllt. In Assads Syrien leben die Menschen in bitterer Not, das Land ist nie zur Ruhe gekommen.

· Zwischenfall an der Sinai-Grenze Drogen gehen auch von Ägypten nach Israel. Vergangene Woche gab es eine Schießerei an der Grenze, als Schmuggler gestoppt werden sollten. Die Idee, dass die israelische Rechte die Palästinenser aus dem Gazastreifen auf den Sinai vertreiben will, löst in Ägypten Angst und Wut aus. Der Sinai ist seit mindestens einem Jahrzehnt instabil, ein Influx von hunderttausenden Menschen, die in Flüchtlingslagern leben müssten, würde die Lage zum Kippen bringen. (Gudrun Harrer, 22.1.2024)