Demonstration gegen AFD in Berlin
An die 350.000 Menschen gingen am Sonntag in Berlin gegen den Rechtsextremismus auf die Straße.
IMAGO/Hami Roshan

So mancher und manche blickt dieser Tage mit Staunen nach Deutschland, wo übers Wochenende fast eineinhalb Millionen Menschen gegen den erstarkten Rechtsextremismus demonstriert haben. Damit ist im Nachbarstaat vor allem die Alternative für Deutschland (AfD) gemeint, deren Landesorganisationen in Thüringer, Sachsen-Anhalt und Sachsen vom Verfassungsschutz als rechtsextrem eingestuft wurden.

Anlass und Auslöser der Massenproteste war das von der Rechercheplattform Correctiv aufgedeckte Treffen hochrangiger AfD-Mitglieder mit Neonazis und Unternehmern in Potsdam, bei dem Vertreibungspläne für Millionen Einwanderer, eingebürgerte Migrantinnen und Migranten sowie deren Unterstützer besprochen wurden.

Hauptredner war der Österreicher und ehemalige Chef der rechtsextremen Identitären in Österreich, Martin Sellner. Die Identitären werden von FPÖ-Chef Herbert Kickl als "unterstützenswertes Projekt" gelobt. Doch hierzulande regt sich die Zivilgesellschaft gegen derlei Ansagen (noch) nicht in vergleichbarem Ausmaß.

Warum ist das so? Der Standard hat einige Ursachen und Gründe der österreichischen Duldsamkeit rechtsextremer Umtriebe zusammengetragen.

Video: Deutschlandweite Demonstrationen gegen rechts.
AFP

Österreich sah sich lange als NS-Opfer

Nach der Niederschlagung des NS-Regimes durch die Alliierten galt Deutschland als das Land der Täter, das sich mit dieser Verantwortung auseinandersetzen musste. Österreich hingegen wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den damaligen SPÖ-, ÖVP- und KPÖ-Vertretern als erstes Opfer der NS-Diktatur bezeichnet. Damit bezog man sich auf den sogenannten Anschluss im Jahr 1938, als deutsche Truppen die "Ostmark" dem Nazi-Reich einverleibten. Grundlage dieser Geschichtsfehlinterpretation lieferte die ähnlich lautende Moskauer Deklaration der alliierten Außenminister aus 1943. Unterschlagen wurde dabei, dass die österreichischen Massen Adolf Hitler zugejubelt hatten – und dass ein überproportionaler Anteil von NS-Täterinnen und -Tätern Österreicher waren.

Die NS-Opferthese erschwerte die Auseinandersetzung mit der Verantwortung an den Nazi-Gräueln – und damit die Abgrenzung gegenüber Rechtsextremismus. Erst Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) machte 1991 dieser Lebenslüge ein Ende, indem er sich für die von Österreichern begangenen Verbrechen entschuldigte.

Das blaue "Dritte Lager" ist Jahrzehnte alt

Während die AfD erst 2013 gegründet wurde und danach zu einem Sammelbecken für Rechte und Rechtsextreme wurde, blickt die FPÖ in Österreich auf eine jahrzehntelange Geschichte zurück. Sie hat die politische Kultur und die diesbezüglichen Umgangsformen in Österreich stark beeinflusst.

Bereits die 1949 entstandene FPÖ-Vorgängerorganisation Verband der Unabhängigen (VdU) war ein Sammelbecken belasteter Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen – ergänzt durch Liberale aus dem sogenannten Dritten Lager aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg, die sich auf die deutsche 1848er-Revolution bezogen. 1956 wurde die FPÖ gegründet, in ihr standen in der Folge über die Jahrzehnte abwechselnd liberale und rechte Strömungen im Vordergrund.

Die parteiinterne Machtübernahme Jörg Haiders 1986 beendete eine solche liberalere Phase, in der die FPÖ auch im Bund kleiner Koalitionspartner der SPÖ war. Danach dominierten rechte und rechtsextreme Positionen – mit dem Entstehen der rechtsextremen Identitären, die sich ursprünglich in Frankreich und Italien formiert hatten, in den 2000er-Jahren auch aus dieser Bewegung. Die teilweise Abgrenzung der FPÖ zu den Identitären endete, als Herbert Kickl den Parteivorsitz von Norbert Hofer übernahm.

Von den Plänen der Identitären, die auf die Vertreibung von Millionen Einwanderern abzielen – und gegen die sich die Massendemonstrationen in Deutschland richten –, distanziert sich Kickl nicht.

Die FPÖ regiert seit Jahrzehnten mit

Als im vergangenen Jahr AfD-Mandatare nach kommunalen Wahlerfolgen in Thüringen und Sachsen erste Positionen als Bürgermeister und Landrat (vergleichbar mit den Bezirkshauptleuten, Anm.) eroberten, galt dies in Deutschland als erster Hinweis, dass die Abgrenzungsmauer gegen Rechtsextreme bröckeln würde. In Österreich führt die Übernahme eines Bürgermeisterpostens durch einen Vertreter oder eine Vertreterin der FPÖ schon lange zu keiner lauten Kritik mehr. Freiheitliche sind auf allen politischen Ebenen vertreten. In drei Bundesländern – Nieder- und Oberösterreich sowie Salzburg – sind sie derzeit als Partner der ÖVP Teil der Landesregierung.

Auch auf Bundesebene schließt die ÖVP nach den kommenden Nationalratswahlen eine Koalition mit den Freiheitlichen nicht aus. Die Ablehnung durch ÖVP-Obmann Karl Nehammer beschränkt sich hier allein auf FPÖ-Chef Herbert Kickl.

Eine solche türkis-blaue, oder blau-türkise, Bundesregierung wäre bereits die vierte derartige Konstellation. Zwischen Februar 2000 und Jänner 2007 gab es zwei solche Regierungen unter Kanzler Wolfgang Schüssel, von Dezember 2017 bis Mai 2019 eine unter Kanzler Sebastian Kurz (beide ÖVP).

Viele wichtige Positionen sind blau besetzt

Nicht nur auf allen politischen Ebenen sind Freiheitliche seit Jahrzehnten vertreten. Denn nach Wahlerfolgen wurden in Österreich auch immer diverse Behörden besetzt. Die Dichte, die es an FPÖ-nahen Beamten etwa bei der Polizei und im Verfassungsschutz gibt, sucht in Deutschland unter AfD-lern ihresgleichen.

Es ist bekannt, dass große Teile der Polizei bei Gewerkschaftswahlen für die FPÖ-nahe Auf votieren. Immer wieder stand die Exekutive in der Kritik, dass etwa gegen Rechtsextreme mit FPÖ-Verbindungen schleppend ermittelt werde. Auf Demonstrationen von neofaschistischen Aktivisten wurde ein gar freundlicher Umgang beobachtet – so etwa bei Corona-Demos.

Viele Medien sind der FPÖ gegenüber unkritisch

Auch Medien haben es der FPÖ oft zu leicht gemacht. So wurden etwa Begriffe, die die Freiheitlichen zuvor von Extremisten wie den Identitären übernommen hatten, auch in vielen Zeitungen unkommentiert verbreitet. Etwa der "große Bevölkerungsaustausch", "Asyltourismus" oder zuletzt der völlig neu konnotierte Begriff der "Remigration".

Davon abgesehen, gingen viele Medien auch selten auf die seit Jahren bekannten FPÖ-Verbindungen zur rechtsradikalen Szene ein. Statt sich demokratiepolitisch oder menschenrechtlich problematische Inhalte im blauen Parteiprogramm anzusehen, bauten viele Medien mit am Image Heinz-Christian Straches und schließlich Herbert Kickls.

Rechtsextremismus beim Namen zu nennen war in der österreichischen Medienlandschaft lange die Ausnahme.

Zu wenig Forschung über Rechtsextremismus

Dies mag auch daran liegen, dass sich in Österreich viel weniger Institutionen mit dem Phänomen des Rechtsextremismus wissenschaftlich auseinandersetzen. In Deutschland gibt es seit vielen Jahren Lehrstühle und Schwerpunkte zum Rechtsextremismus an Unis quer durchs Land.

Nicht so in Österreich. Hier ist es das Verdienst des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW), dass es überhaupt eine kontinuierliche, qualitätsvolle und auch staatlich geförderte Extremismusforschung gibt. Seit 2010 beobachtet auch die Grünen-nahe Plattform Stoppt die Rechten die einschlägige Szene.

Von der Vielzahl an Stiftungen und Thinktanks, die sich in Deutschland überparteilich mit der rechten Gefahr für die Demokratie auseinandersetzen, kann man hierzulande aber nur träumen. Beispiele sind in Deutschland die Amadeu-Antonio-Stiftung, die Stiftung Mercator, die Friedrich-Ebert-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung und die Konrad-Adenauer-Stiftung. Auch ein Pendant zur Bundeszentrale für politische Bildung wäre für Österreich ein Gewinn. (Irene Brickner, Colette M. Schmidt, 22.1.2024)