Grafitti Orbán nd Soros
Verhasst und bewundert: die politischen Feinde George Soros (rechts) und Viktor Orbán auf einer Hauswand.
APA/AFP/NIKOLAY DOYCHINOV

"Wenn Gerüchte alt werden, werden sie Mythos." Stanislaw Jerzy Lec

Die zwei bekanntesten, am meisten bewunderten und verhassten Ungarn, die zugleich unversöhnliche politische Feinde sind, heißen Viktor Orbán und George Soros. Ich habe beide mehrmals getroffen, gehörte aber nie zu ihren engen Bekannten, geschweige denn Freunden.

Hier behandle ich ausschließlich die politische Bedeutung der Persönlichkeit George Soros’ und die Offensive der Heuchler von Orbán bis Trump gegen die von ihm gegründeten, weltweit tätigen Stiftungen, die Open Society Foundations.

Abenteuerliches Überleben

Der 1930 in Budapest geborene Soros bezeichnet das Jahr 1944, sein abenteuerliches Überleben der Shoah, als sein prägendes Erlebnis. Noch vor der kommunistischen Machtübernahme ging er nach London und absolvierte die London School of Economics. 1970 gründete Soros in New York den Soros Fund, später umbenannt in Quantum Fund, mit fünf Millionen Dollar Startkapital. Durch Devisen- und Aktienspekulationen wuchs das Fondsvermögen bis 1993 auf vier Milliarden Dollar. Das Forbes -Magazin schätzte sein Vermögen 2016 in seiner Liste der Milliardäre auf 24,9 Milliarden US-Dollar, damit lag er damals noch auf Platz 23. 2023 steht er mit einem auf 6,7 Milliarden geschätzten Vermögen auf der Forbes-Liste nur mehr auf dem 365. Platz – weil er seit 1979 insgesamt 34 Milliarden Dollar verschenkt hat. 2017 überwies er einen Großteil seines Vermögens, 18 Milliarden Dollar, an die Open Society Foundations.

George Soros gilt als mit Abstand wichtigster Spender in den Staaten des einstigen sowjetischen Machtbereichs. Nie zuvor war ein so reicher Mann bereit gewesen, den Großteil seines Vermögens gezielt zu verschenken, um die offene Gesellschaft voranzutreiben, die Werte der liberalen Demokratie und die Rechte der Minderheiten zu verteidigen.

Einflussreicher Ausländer

Als ich mit ihm 1995 ein langes Fernsehinterview führte, genoss er bereits internationales Ansehen als ein "Ein-Mann-Marshallplan" (Newsweek), als der einflussreichste Ausländer im gesamten ehemaligen Sowjetreich.

Inmitten des Chaos nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion bekamen zum Beispiel dreißigtausend russische Wissenschafter rund hundert Millionen Dollar; zweihundertfünfzig Millionen Dollar kosteten ein ehrgeiziges Programm zur Herausgabe revidierter russischer Schulbücher und die Ausbildung russischer Lehrer; ungefähr zur gleichen Zeit half Soros mit einem Aufwand von fünfzig Millionen Dollar der Bevölkerung Sarajevos, der von den serbischen Truppen belagerten bosnischen Hauptstadt, bei der Wiederherstellung der Gas-, Strom- und Wasserversorgung.

Trotz der weltweiten Aktivitäten der Stiftungen in fünfunddreißig Ländern waren die politisch-kulturellen Folgen für die Aushöhlung einer Diktatur vielleicht nirgends so bedeutend wie in der Heimat des inzwischen zum US-Staatsbürger gewordenen Philanthropen. Hier hatte Soros bereits 1984, also noch unter den Bedingungen des geschwächten Kádár-Regimes, seine erste Stiftung und 1991 die Central European University gegründet.

Von Soros-Stiftung profitiert

Viele Politiker der im März 1988 gegründeten Fidesz-Partei bekamen Jahresstipendien an Universitäten in Oxford oder in den USA. Viktor Orbán hat von April 1988 bis zu den Wahlen 1990 größtenteils von der Unterstützung der Soros-Stiftung gelebt: ab September 1989 mit einem auf neun Monate ausgelegten Zehntausend-Dollar-Soros-Stipendium als Gast des Pembroke College in Oxford. Er kehrte jedoch nach vier Monaten wegen der ersten freien Wahlen in Ungarn nach Budapest zurück. Ein Drittel der 1990 gewählten Abgeordneten im ungarischen Parlament hat von der Soros-Stiftung Unterstützung erhalten. Die Hilfe für Ungarn betrug seit 1984 laut Angaben der Stiftung insgesamt über vierhundert Millionen Dollar.

Doch selbst diese Leistung wird von der internationalen Bedeutung der Central European University (CEU) in den Schatten gestellt. Seit der Gründung 1991/92 haben 18.000 Studenten aus 130 Staaten die CEU absolviert. Soros hat mit Schenkungen in der Höhe von insgesamt zwei Milliarden Dollar die Zukunft dieser einzigartigen Institution trotz der erzwungenen Übersiedlung 2019/20 nach Wien auf Dauer gesichert.

Die ungarische Kommunikationsexpertin Mária Vásárhelyi stellte fest, dass seit Graf Stephan Széchenyi niemand so viel aus dem eigenen Vermögen für die Wissenschaft in Ungarn gespendet hat wie er, der ungarische Jude und US-Staatsbürger. Auch der Ex-Rektor der CEU, der kanadische Zeithistoriker Michael Ignatieff, sagte in einem Interview: "Niemand hat so viel für Ungarn getan wie er, und niemand wurde so zu Unrecht geschmäht."

Buch
Paul Lendvai, "Über die Heuchelei". € 24,50 / 176 Seiten. Zsolnay, Wien 2024 Buchpräsentation am 12. 2., 19 Uhr, im Kreisky-Forum in Wien
Zsolnay

Neues Feindbild Ungarns

Wie und warum ist dann der bewunderte Philanthrop George Soros zuerst in Ungarn zum Kopf einer globalen Verschwörung zur Unterwanderung der eigenen Nation und dann weltweit zum Inbegriff des Bösen geworden? Es war ein US-amerikanischer Kampagnen- und Kommunikationsberater, Arthur Finkelstein, der mit seinem Assistenten George Birnbaum die "geniale Idee" hatte, den Milliardär George Soros zum "Monster", zum neuen Feindbild Ungarns zu machen.

Auf der Basis eines Interviews mit George Birnbaum berichtete der Schweizer Journalist Hannes Grassegger Anfang 2019 in einer großen Reportage in Das Magazin über den Erfolg der "Finkelstein-Formel" in Ungarn. Diese Formel forderte, dass jede erfolgreiche Kampagne einen Gegner braucht. Soros war die Figur, die das Großkapital, das sich gegen das kleine Ungarn verschworen hat, perfekt verkörperte. Noch dazu war er in Ungarn geboren, also nicht unbekannt.

Das "Monster Soros" war geboren, ein jüdischer Multimilliardär mit einem weltweiten Netzwerk, gegen den sich die ganze Nation, wie seinerzeit gegen die Osmanen, die Habsburger und 1956 gegen die Sowjets und Kommunisten, hinter Viktor Orbán vereinen musste, um ihn zu besiegen. Birnbaum sagte, Finkelstein habe bei Orbán "enormes Vertrauen" genossen. Hannes Grassegger weist in seiner Reportage auf einen "ebenso wichtigen wie sonderbaren Aspekt" hin: "Zwei jüdische Politberater machen einen Juden zum Ziel einer Kampagne mit antisemitischen Zügen."

Soros als Puppenspieler

Wenn auch Orbán in der im Herbst 2015 angelaufenen Kampagne gegen Soros wegen dessen Flüchtlingskonzepten das Wort Jude nie benutzte, hatte sie einen antisemitischen Beigeschmack. 2018 sagte Orbán, man kämpfe gegen einen "Gegner", der "anders" sei und "keine eigene Heimat" habe, da er "das Gefühl hat, die ganze Welt gehöre ihm". Im Jahr zuvor hatte die Budapester Regierung unter dem Motto "Stoppt Brüssel" riesige Plakate aufhängen lassen, auf denen ein grinsender Soros in Großaufnahme zu sehen war: "Lassen wir nicht zu, dass Soros zuletzt lacht." Andere Plakate zeigten ihn als Puppenspieler, der die Oppositionspolitiker tanzen lässt. Kein Wunder, dass in einem Kerngebiet des Holocausts die Wähler die kaum versteckte Botschaft dieser Soros-Plakate mit Judensternen ergänzten.

Wiederholt setzte Orbán selbst in seinen Reden und wöchentlichen Schein-Interviews im Hörfunk den Ton der Kampagne gegen den angeblichen Plan, Ungarn und Europa mit Migranten zu überfluten, Ungarn zu einem Einwanderungsland zu machen und dem Land wie dem Kontinent seine kulturelle Identität zu rauben. Als die EU-Kommission endlich ein Verfahren gegen Ungarn wegen der Verletzung der elementaren Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit eröffnete, erklärte der Regierungschef im ungarischen Parlament: "Die Brüsseler Bürokraten arbeiten an der Umsetzung des Soros-Planes und fressen Soros aus der Hand."

Viktor Orbán ist stolz auf seine international erfolgreiche Glanzleistung der Heuchelei, einen ehedem bewunderten Wohltäter Ungarns in einen weltweit von Autokraten und ihren Parteigängern verhassten Bösewicht zu verwandeln. Bei der Budapester Konferenz 2023 der rechtslastigen US-amerikanischen Conservative Political Action Conference prahlte er damit, Ungarn verdanke George Soros den weltweiten Erfolg seiner, Orbáns, Politik gegen die Ideologie der offenen Gesellschaft: "Wir landeten deshalb auf den Titelseiten der Weltpresse, weil wir den Kampf gegen das Migrantenprogramm von Soros und gegen die von den NGOs vertretene Ideologie der offenen Gesellschaft aufgenommen und unsere Heimat verteidigt hatten."

Weltweite Erfolge

Der von Finkelstein und Birnbaum erfundene und von Orbán und seinem Regierungsapparat medial und politisch verwirklichte Plan, einen reichen Philanthropen als wurzellosen Finanzier mit politischen Ambitionen zu dämonisieren, hat in der Tat weltweite Erfolge erzielt. Die Autokraten und rechten Bewegungen, die heute (auch simulierte) Wahlkämpfe inszenieren wollen, können einfach die vielfältigen, frei verfügbaren und an die jeweiligen Bedürfnisse adaptierbaren Anti-Soros-Verschwörungstheorien aus dem Netz fischen.

Soros’ Open Society Foundations unterstützen zivilgesellschaftliche NGOs im Bereich Bildung und Minderheitenrechte, freie Medien und Antikorruptionsinitiativen finanziell. Wladimir Putin hat die Soros-Stiftungen bereits 2015 gezwungen, Russland zu verlassen, weil sie Menschenrechtsorganisationen wie Memorial förderten, die Untersuchungen zum Sowjetterror durchführte.

Andere Autokraten folgten: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschuldigte 2018 den inzwischen zu lebenslanger Haft verurteilten liberalen Menschenrechtsaktivisten Osman Kavala, Teil einer von Soros geführten Verschwörung gegen den türkischen Staat zu sein: Da Soros die Rechte der Palästinenser und liberale Einrichtungen auch in Israel unterstützt, beschimpfte ihn Yair Netanjahu, Sohn des israelischen Ministerpräsidenten und Freund des Orbán-Regimes, auf Facebook und verbreitete eine Karikatur, die Soros zeigt, wie er die Weltkugel vor einer reptilienartigen Kreatur baumeln lässt.

Publizist Lendvai
Reflektiert über Heuchelei: Der politische Kommentator Paul Lendvai.
APA/ROBERT JAEGER

Briefbombe von Trump-Anhänger

In den letzten Jahren wurde die Kampagne gegen Soros auch in den Vereinigten Staaten verstärkt. Ende Oktober 2018 erhielt Soros von einem Trump-Anhänger eine Briefbombe. Von Präsident Trump wurde er beschuldigt, illegale Migration in die USA zu finanzieren. Trump-Anhänger warfen ihm vor, bei den "gestohlenen" Wahlen von 2020 mitgewirkt zu haben. Im Rennen um die Präsidentschaftskandidatur für 2024 bedient Trump immer wieder antisemitische Stereotype. Mitte Juli 2023 verschickte sein Wahlkampfteam eine E-Mail an seine Unterstützer: Auf einem Bild ist Soros zu sehen, wie er als Puppenspieler bei Joe Biden die Fäden zieht. Auch im Zusammenhang mit der Anklage wegen mutmaßlicher Schweigegeldzahlung an eine Pornodarstellerin in New York im Frühjahr 2023 hatte Trump Soros beschuldigt: Der Bezirksstaatsanwalt sei "von George Soros handverlesen und finanziert" worden.

Elon Musk, der reichste Mann der Welt, mit einem Vermögen von rund 250 Milliarden Dollar, griff Soros im Mai 2023 persönlich an: "Soros hasst die Menschheit." Die Verbalattacken auf Twitter (X) erfolgten, nachdem das Soros-Fund-Management alle Aktien der von Musk geführten Autofabrik Tesla verkauft hatte. Auch in Indien wurde Soros zur Zielscheibe wilder Angriffe, nachdem er in einer Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz 2023 den hindu-nationalistischen Kurs von Ministerpräsident Narendra Modi scharf kritisiert hatte.

Geänderte Prioritäten

Es würde zu weit führen, die bei diversen Anlässen vorgebrachten Vorwürfe rechter Kandidaten und Bewegungen in Polen und der Slowakei, in Bulgarien und Rumänien, Brasilien und Malaysia gegen Soros und die von ihm direkt oder indirekt unterstützten Menschenrechtsorganisationen aufzuzählen. Soros, der am 12. August 2023 93 Jahre alt geworden ist, hat im Juni 2023 die Führung der Open Society Foundations seinem Sohn Alexander, geboren 1985, übertragen. Dieser hat eine gewisse Änderung der Prioritäten zugunsten der Unterstützung der Demokraten in den USA sowie die Kürzung des Personals und Budgets der Stiftungen in Europa angekündigt. In absehbarer Zukunft ändert das aber kaum etwas an der Soros-Phobie in der Welt der Autokraten.

Nach dreizehn Jahren an der Macht liegen alle Fidesz-Politiker und die befreundeten und so steinreich gewordenen ungarischen Oligarchen vor Orbán im Staub. Auch international weht der politische Wind heute aus einer anderen Richtung als in den 1990er-Jahren, als die Aktivitäten der Soros-Stiftungen auf ihrem ideellen und finanziellen Höhepunkt waren.

Und das Schicksal von George Soros? Ist er mit seiner liberalen Weltsicht letztlich der Verlierer im internationalen Kampf der Ideen? Wird er tatsächlich sogar als der perfekte Bösewicht in die Geschichte eingehen? Ich glaube, dass nicht die Milliarden seines Hedgefonds, sondern die von ihm bis zuletzt so leidenschaftlich vertretenen Ideen sein wahres Erbe bilden werden. Der Kampf zwischen der liberalen Demokratie und der autoritären Versuchung, den es in Europa ebenso wie in den Vereinigten Staaten auszufechten gilt, ist noch nicht entschieden. Deshalb bleibt auch das Urteil über das Lebenswerk von George Soros offen. (Paul Lendvai, 27.1.2024)