Einer der für mich traurigsten Anblicke der letzten Jahre war eine Fronleichnamsprozession in Wien, als ein Dutzend Personen der Monstranz folgten. Ich erinnerte mich an meine Kindheit und wesentlich größere Prozessionen in meinem kleinen Ort in der Steiermark. Die katholische Kirche bildet Lebensrealitäten nicht mehr ab, wird zunehmend irrelevant.

Viel Kluges wird geschrieben über die Gefahren von Kickl, Wagenknecht und Co.
APA/ERWIN SCHERIAU

Aber die anglikanische Kirche in England, die diese Realitäten wesentlich besser abbildet, wird auch irrelevant. Wir leben in einer agnostischen Welt, was per se nicht schlecht ist, aber eine Konstante im Leben früherer Generationen ist verlorengegangen.

Verlagerung ins Virtuelle

Gleichzeitig verändert sich unsere physische Welt schnell. Im Wien der 1980er-Jahre gab es eine Handvoll Restaurants, in denen steirisches Kürbiskernöl serviert wurde. Heute findet man es in jedem Schweizer Supermarkt. Vor allem aber verlagert sich unsere Welt ins Virtuelle. Es ist inzwischen alltäglich, eine Runde im Gasthaus zu sehen, in der nicht mehr geredet wird, sondern alle sich über ihre Smartphones beugen.

Innert weniger Jahrzehnte hat sich die Welt gewandelt, und viele wollen das ausnutzen. Viel Kluges wird geschrieben über die Gefahren von Kickl, Wagenknecht und Co; viele aufrechte Demokratinnen erheben dieser Tage ihre Stimme. Wenn aber 20 Prozent AfD oder 45 Donald Trump wählen oder ein Drittel der Bevölkerung in einer Opfer-Täter-Umkehr die Ukraine aufgeben will, dann reichen inhaltliche Debatten zu einzelnen Themen nicht. Wir müssen verstehen, was diesem Verhalten zugrunde liegt.

Die Alterung der Bevölkerung ist nicht die Ursache. Die USA sind eine wesentlich jüngere Gesellschaft, die Wut virulenter. Umgekehrt ist radikaler Populismus in Japan, der weltweit ältesten Gesellschaft, unbedeutend.

Es liegt auch nicht an einer oft behaupteten zunehmenden Ungleichheit. Es gibt zwar weltweit mehr Superreiche, aber gut ausgebaute Sozialstaaten wie Österreich werden nicht ungleicher, was sich an über Zeit stabilen Gini-Koeffizienten für Einkommen und Vermögen ablesen lässt.

Mut und Willen

Die Menschheit überfordert sich jedoch gerade selbst mit Innovationen. Die Digitalisierung der letzten Jahrzehnte und die rapide wachsende künstliche Intelligenz sind in vieler Hinsicht ein Segen. Für jeden Einzelnen von uns bringen sie aber viel Veränderung: Man muss alte Berufe aufgeben, neue Fähigkeiten lernen, den Alltag umbauen, um mitzukommen. Das nährt Verunsicherung.

Die Frage ist, was tun. Die Antwort lautet: Wir müssen bremsen, wo es sinnvoll ist, und flexibler werden, wo wir können. Bei Migration und Bevölkerungswachstum ist Bremsen sinnvoll. Deren Geschwindigkeit – der Ausländeranteil ist in nur zehn Jahren von zwölf auf 19 Prozent gestiegen – überfordert das Land kulturell und praktisch: Spitäler, Schulen und Infrastruktur wachsen nicht schnell genug mit. Gleichzeitig braucht es aber auch mehr Flexibilität. Wir müssen Gesetze durchforsten, die im 20. Jahrhundert sinnvoll waren, jetzt aber unsere Fähigkeit behindern, das Land an eine sich schnell ändernde Welt anzupassen – von der Neutralität bis zur Gewerbeordnung. Dazu braucht es Mut zur Ehrlichkeit, wo zu bremsen ist, und Willen zur Veränderung.

Es fehlt dem Land nicht an Ressourcen – nur an Mut und Willen. Das können wir ändern. (Veit Dengler, 28.1.2024)