Politikerinnen und Politiker sagen gerne, man müsse jede Krise nutzen. Aber selbst sie wirkten in Davos von einer Tagesordnung, mit der die volle Bandbreite unserer aktuellen "Polykrise" abgedeckt werden sollte, wie erschlagen. Rückblickend war das Weltwirtschaftsforum heuer noch anstrengender und verwirrender als sonst. Woran liegt das?

Das Problem ist nicht, dass jedes einzelne Problem schwieriger zu lösen wäre, weil es gleichzeitig noch so viele andere gibt. Das Problem ist, dass sich unsere heutigen Krisen gegenseitig verstärken und sich gegenseitig die Aufmerksamkeit wegnehmen. Vor dem Hintergrund zunehmender geopolitischer Spannungen und des sich zuspitzenden Konflikts im Nahen Osten geben die Huthi-Angriffe auf den Schiffsverkehr im Roten Meer der Weltwirtschaft Anlass zur Sorge. Dass eine Dürre in Mittelamerika – das Nebenprodukt zyklischer Wetterveränderungen und der dauerhaften Folgen des Klimawandels – gleichzeitig den Schiffsverkehr durch den Panamakanal behindert, macht die Sache nicht besser.

Eine Gruppe von Menschen beim Gruppenfoto vom Weltwirtschaftsforum in Davos
In Davos berieten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Wirtschaftsforums über Lösungen aus der "Polykrise".
Foto: Reuters / Denis Balibouse

Im Gazastreifen werden die humanitären Folgen des Krieges von Tag zu Tag dramatischer und haben bis heute mehr als 25.000 Palästinenserinnen und Palästinenser das Leben gekostet. In Davos haben Vertreterinnen und Vertreter aus den USA und zahlreiche europäische und arabische Diplomatinnen und Diplomaten in einer Diskussionsrunde nach der anderen ihre Vision skizziert, wie der Krieg durch regionale Integration und eine Zweistaatenlösung beendet werden könnte. Gleichzeitig lassen die US-amerikanischen und europäischen Hilfen für die Verteidigungskräfte der Ukraine nach, und der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj versucht verzweifelt, sein Land trotz all dieser Aufmerksamkeit für den Nahen Osten zurück auf die strategische Agenda zu bringen.

Hehre Absichten und politische Realitäten

Am Ende waren sich die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig, welche Elemente nötig sind, um die Krisen in der Ukraine und im Nahen Osten zu beenden. In Bezug auf den Gazastreifen sind die fünf wichtigsten Schritte: ein Deal zur Freilassung der restlichen israelischen Geiseln, weitere Fortschritte bei der regionalen Normalisierung zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, ein realistischer Fahrplan für eine Zweistaatenlösung, regionale Unterstützung zur Wiederbelebung der Palästinensischen Autonomiebehörde und ein Ende der offenen Kämpfe an Israels Nordgrenze zum Libanon.

Was die Ukraine angeht, forderte US-Außenminister Antony Blinken in einem Gespräch mit dem Journalisten Thomas Friedman, das Land brauche eine Beitrittsperspektive für die EU und die Nato. Gleichzeitig sieht Blinken den Westen in der Verantwortung, die Ukraine auf eine solide militärische, wirtschaftliche und demokratische Basis zu stellen. Das alles klingt sehr vernünftig. In diesem Jahr der richtungsweisenden Wahlen besteht die eigentliche Herausforderung aber darin, hehre Absichten mit den politischen Realitäten in Einklang zu bringen. Während der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der russische Präsident Wladimir Putin anscheinend entschlossen sind, für immer an der Macht zu bleiben, könnte Blinken in einem Jahr durchaus nur noch normaler Bürger sein.

"Donald Trump war in Davos vielleicht nicht persönlich anwesend; das hat ihn aber nicht daran gehindert, über die gesamte Veranstaltung seinen bedrohlichen Schatten zu werfen."

Über den Zuhörerinnen und Zuhörern hing die Krise der US-amerikanischen Demokratie wie eine dunkle Wolke. Donald Trump war in Davos vielleicht nicht persönlich anwesend; das hat ihn aber nicht daran gehindert, über die gesamte Veranstaltung seinen bedrohlichen Schatten zu werfen. Viele hatten Zweifel, ob die Regierung Joe Bidens noch genug politisches Kapital hat, um die von Blinken und seinem Nationalen Sicherheitsberater Jake Sullivan vorgeschlagenen Lösungen auch umzusetzen. Und selbst wenn sie ihre politischen Präferenzen weiterverfolgen können, wie geht es weiter, wenn Trump gewinnt?

Das Thema jedoch, das allen konkurrierenden Krisen die Show gestohlen hat, war künstliche Intelligenz (KI). Mich hat aber vor allem verblüfft, wie unterschiedlich die Bedeutung von KI eingeschätzt wurde. Der Mitbegründer von Deepmind Mustafa Suleyman und seine Kollegen aus der Tech-Branche glauben, dass es die Welt genauso revolutionieren wird wie Feuer und Elektrizität. Nach Ansicht des Historikers Niall Ferguson ist KI dagegen wie Crypto vor allem ein Hype.

"Kein Wunder, dass viele Menschen Angst haben."

Genau wie soziale Medien um die Aufmerksamkeit der Menschen konkurrieren, tun dies auch globale Krisen. Wenn neue unerwartete Variablen sich gegenseitig in unvorhersehbarer Weise beeinflussen, erzeugt dies ein Gefühl der Überwältigung und erschwert die Suche nach Lösungen. Die Tatsache, dass im Superwahljahr 2024 vier Milliarden Menschen in mehr als 70 Ländern wählen dürfen, sorgt für zusätzliche Unsicherheit.

Kein Wunder, dass viele Menschen Angst haben. Einer großen neuen Umfrage meiner eigenen Organisation, des European Council on Foreign Relations, zufolge, haben die fünf größten Krisen der letzten 15 Jahre (die Wirtschaftskrise nach 2008, die Flüchtlingskrise 2015, Corona, der Krieg in der Ukraine und der Klimawandel) die Europäerinnen und Europäer in "Krisenstämme" gespalten. Im Verlauf dieses Prozesses haben sich neue, oft konkurrierende politische Identitäten ausgebildet.

Wir beschweren uns darüber, dass die Politikerinnen und Politiker, Konzernchefs und -chefinnen wie Diplomatinnen und Diplomaten, die es sich einmal im Jahr in Davos gemütlich machen, den Kontakt mit der Normalbevölkerung verloren haben. In der Aufmerksamkeitsökonomie von heute sind sie aber ebenso verwirrt wie die Menschen, die sie eigentlich vertreten sollten. (Mark Leonard, Copyright: Project Syndicate, 31.1.2024)