Solche Dreistigkeit hat es in der Geschichte von EU-Gipfeln noch nie gegeben: Seit Wochen droht ein Regierungschef – Viktor Orbán – den 26 EU-Partnern ultimativ damit, bei einer für die gemeinsame Zukunft Europas ganz zentralen Politik ein Veto einzulegen. Das ist die milliardenschwere Finanzhilfe für die Ukraine samt Waffenlieferungen: essenziell für die EU, überlebenswichtig für das große Nachbarland im Osten.

Würde die EU ihre Finanzhilfen von monatlich fast zwei Milliarden Euro einstellen und würden auch die USA ihre Zahlungen reduzieren, das Land mit 40 Millionen Einwohnern würde rasch zusammenbrechen. Der russische Machthaber Wladimir Putin würde triumphieren. Es entstünde eine für Europa gefährliche Sicherheitslage. Schon jetzt leben 4,5 Millionen ukrainische Flüchtlinge in der EU.

Orban im Vordergrund
Hat eine politische und moralische Niederlage kassiert: Viktor Orbán.
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Orbán warf allen anderen jedoch vor, bei dem Thema völlig falsch zu liegen. Er beschimpfte die Partner als "Geiselnehmer", weil sie Ungarn bei weiterer Obstruktion harte Konsequenzen ankündigten. Und dann geht der Nationalpopulist aus Budapest einfach her und lenkt bereits vor Beginn eines extra einberufenen Sondergipfels ein. Fehlte nur noch, dass er dazusagte: "Ätsch, war nur ein Bluff. Ich drohte nur, weil ich mich gerne medial in Szene setze, um fette Schlagzeilen zu bekommen."

Das hat diesmal nicht funktioniert. Orbán musste einsehen, dass er eben nicht ungarische Interessen vertritt, wie er gerne glauben machen will, wenn er gemeinsame europäische Interessen mit Füßen tritt. Er musste schon im Vorfeld zur Kenntnis nehmen, dass es die EU-Partner ernst meinten, als sie sagten, dass seine Verweigerung diesmal nicht mehr akzeptiert werde.

Allen voran übten die EU-"Großmächte" Deutschland und Frankreich großen Druck aus. Und kein einziger Regierungschef stand Orbán bei, nicht wie früher der polnische Premier, der jetzt Donald Tusk heißt; auch nicht Robert Fico, der zartes Verständnis für Putin signalisiert.

Video: Ungarn lenkt ein, alle EU-Länder stimmen für Ukraine-Hilfen
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Eingeständnis der Schwäche

Man muss sich auch immer wieder vor Augen führen, welche Rolle Ungarn in einer Schicksalsgemeinschaft von 440 Millionen EU-Bürgerinnen und -Bürgern politisch und wirtschaftlich spielt: eine sehr geringe. Neun Millionen Einwohner, die mit wirtschaftlichen Problemen und Superinflation kämpfen, ohne EU-Subventionen weiter abstürzen würden.

Orbán isoliert Ungarn und verprellt Partner. Sein Einlenken noch vor dem Gipfel ist daher als ein klares Eingeständnis von Schwäche, als schwere Niederlage zu bewerten. Er hat nichts dafür bekommen. Die 26 EU-Partner haben dem pannonischen Autokraten in aller Öffentlichkeit eine Ohrfeige verpasst, ihm die Grenzen aufgezeigt.

Umso wichtiger: Die Ukraine hat nun eine Zusage für EU-Hilfen, bis Ende 2027 budgetiert, planbar also auf vier Jahre, voll unterstützt durch Garantien aller Mitgliedsländer. Damit ist der Krieg gegen Russland nicht gewonnen. Aber es wird die Regierung in Kiew und die Menschen in der Ukraine in einer schwierigen Phase stärken, auch moralisch.

Viktor Orbán hingegen hat seine politische und moralische Niederlage bereits kassiert. Mit seiner feigen und unsolidarischen Haltung bzw. seiner Unterwürfigkeit gegenüber Putin hat er seinem Land in Wahrheit schwer geschadet. Das werden die Osteuropäer und die Ukrainer lange nicht vergessen. Orbán ist entzaubert. (Thomas Mayer, 1.2.2024)