Karl Nehammer präsentiert den
Auch seine Bildungsideen dozierte Kanzler Nehammer vor Funktionärinnen und Funktionären in Wels.
APA/HELMUT FOHRINGER

Es wäre unrealistisch gewesen, einen durchkomponierten Bildungsgesamtplan samt der für die Umsetzung erforderlichen Reformstrategien zu erwarten. Aber dieser "Plan" ist nicht mehr als ein paar zusammenhanglose Vorschläge, ohne jede Vision oder Ambition, die vermutlich nicht von Bundeskanzler Karl Nehammer selber stammen, sondern von "bildungsfernen" Parteisekretären, die weder über schulpraktische Erfahrung verfügen noch eine Ahnung von internationaler Schulentwicklung und Bildungsforschung haben.

Für wie (un)wichtig die Autoren das fundamentale gesellschaftliche Handlungsfeld Bildung und Schule halten, kann man erstens daraus ersehen, dass das Bildungskapitelchen gerade einmal eine knappe halbe Seite im 82-seitigen Österreich-Plan einnimmt, und zweitens aus der Beiläufigkeit und Unüberlegtheit all dieser Vorschläge.

Vorrangigste Probleme?

An erster Stelle steht "Coding ab der 5. Schulstufe". Bei aller Wichtigkeit von "computer literacy": Ist das angesichts der 20 Prozent der 15-Jährigen, die nach der jüngsten Pisa-Studie keine ausreichenden Lese- und Mathematikkenntnisse erreichen, wirklich das vorrangigste Problem des österreichischen Schulwesens? Sodann folgen einige weitere bildungspolitische Hüftschüsse, etwa "eine bi- beziehungsweise multilinguale Schule je Bundesland"; Lehrangebote von Universitäten an AHS-Oberstufen; Schutz vor Fake News durch Gratis-Apps von Qualitätszeitungen ab der 7. Schulstufe; kostenlose Kurse für die Meisterprüfung und als Abschluss "Kinder auf KI vorbereiten". Die Meisterprüflinge werden sich über die Gratiskurse freuen und die Verleger über das öffentliche Körberlgeld für die Apps; die Begeisterung des Staff der Universitäten, an AHS-Oberstufen zu unterrichten, dürfte sich allerdings in Grenzen halten.

Die dringlichen Probleme

Über die echten, dringlichen Probleme des schulischen Status quo enthält der Österreich-Plan jedoch kein Sterbenswörtchen:

· nichts über den aus der Sicht der OECD längst überfälligen Ausbau und die Professionalisierung der Elementarbildung, in der bekanntlich Bildungskarrieren nachhaltig grundgelegt werden (oder nicht);

· nichts über die Beseitigung der Mängel der frühen Auslese, die in vielen Familien Stress und Leid produziert, soziale Segregation verstärkt sowie zu einem beunruhigenden Auseinanderdriften jugendlicher Subkulturen führt;

· nichts über einen ernsthaften, umfassenden Ausbau der Akkulturation und Integration von Migrantenkindern (und deren Müttern);

· nichts über Bemühungen, die von Tristesse geprägte kollektive Befindlichkeit der Lehrerschaft durch glaubwürdige, inspirierende Aktionen zu verbessern und den Lehrberuf attraktiver zu machen;

· nichts über die Entwicklung des Unterrichts in Richtung des von der OECD seit Jahren empfohlenen "personalized learning", das heißt die Ermöglichung von individuellen, begabungsgerechten Bildungsprofilen und die Sicherung von allgemeinen MindestStandards;

· nichts über die Unterstützung der Schulen bei ihren Bemühungen um eine gelebte demokratische Schulkultur, die von Freundlichkeit, Toleranz, Respekt und Inklusion geprägt ist, samt präventiven Maßnahmen gegen Gewaltbereitschaft und tatsächliche Aggression.

Leistung durch Noten?

Das Leitmotiv des Nehammer-Plans, "Leistung", verschont auch nicht das Bildungskapitel. Die Autoren sind sich jedoch nicht im Klaren darüber, wie sie damit umgehen sollen. Da heißt es einerseits, die Schule solle weiter ein "Ort der Leistung" sein, andererseits solle Leistung durch "ein klares Bekenntnis zu Schulnoten" wieder einen Wert bekommen. Also was? Viele Länder, die sich bei Pisa als leistungsstark erweisen, kommen bis zur sechsten Schulstufe ohne Ziffernnoten aus und geben den Kindern (und ihren Eltern) auf andere Weise Rückmeldung über ihre Lernfortschritte, etwa durch individuelle Schüler-Eltern-Lehrer-Konferenzen. Dass dieses "klare Bekenntnis zu Noten" im Widerspruch zu einem riesigen Fundus von Bildungsforschung steht, der die Mängel von Ziffernnoten belegt, scheint den Autoren nicht bekannt oder egal zu sein.

Kleiner persönlicher Exkurs: Als ich an der Universität Wien noch einführende schulpraktische Lehrveranstaltungen für das Fach Englisch hielt, bat ich AHS-Professorinnen und -Professoren, einige Exemplare von mehr oder weniger fehlerhaften Schularbeiten zu benoten. Es war für mich und die Studierenden faszinierend, amüsant und erhellend zu beobachten, wie diese Lehrpersonen ihre jeweiligen Zweier, Dreier oder Vierer für ein und dieselbe "Leistung" begründeten und verteidigten.

Die beabsichtigte Wiedereinführung von Leistungsgruppen in Mittelschulen ignoriert die Fülle an Differenzierungsformen, die nicht zu stigmatisierender Segregation führen. Selbstverständlich gibt es in jeder Schulklasse ein Leistungsspektrum, an dessen unterem Ende Schülerinnen und Schüler Schwierigkeiten haben, MindestStandards zu erreichen und dafür mehr Zuwendung von Lehrpersonen brauchen, während am oberen Ende "enrichment" für begabungsgerechtes didaktisches "Kraftfutter" zu sorgen hat. Für diese integrative Differenzierung haben sich flexible Kleingruppen innerhalb der Klasse als angemessen und tauglich erwiesen.

Schlechter Scherz

Der Österreich-Plan enthält auch die Forderung, am Ende der Schulpflicht die Grundkenntnisse in Deutsch, Mathematik und Englisch zu überprüfen. Ein bisschen spät, oder? Das erinnert an den schlechten Scherz, bei dem ein Arzt zu einem bei der Ordinationstür hereinkommenden Gerippe sagt: "Jetzt erst kommen Sie?" Die Vergewisserung des Lernfortschritts und die Sicherung der (Mindest-)Standards des Wissens, der Einstellungen und des pro-sozialen Verhaltens sind fundamentale Aufgaben des Lehrpersonals während der gesamten Schulkarrieren ihrer Schülerinnen und Schüler. Die von Pisa festgestellten Lerndefizite sind schwer zu erklären und zu rechtfertigen.

Einen lächerlichen Hinweis hätte man sich sparen können: Österreich solle zum "Harvard" für Lehrlinge werden. Wer das geschrieben hat, hat offensichtlich keine Ahnung, was Harvard ist und wie es funktioniert. (Karl Heinz Gruber, 12.2.2024)