Ein gespiegeltes Klassenzimmer, Lehrer vor dem Whiteboard, vor ihm Schülerinnen und Schüler.
Nach vier Jahren wird sortiert und in zwei Gruppen aufgeteilt: die einen in die Mittelschule, die anderen ins Gymnasium. Sitzen alle richtig?
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Seit der ersten Pisa-Studie, die 2003 präsentiert wurde, ist die Botschaft für Österreich immer gleich: mittelmäßige Leistungen und enormer Einfluss des Herkunftsmilieus. OECD-Bildungsdirektor Andreas Schleicher wiederholt seit 20 Jahren, dass es problematisch sei, Schülerinnen und Schüler "in Schubladen zu stecken", weil so der soziale Hintergrund wesentlichen Einfluss auf die schulische Leistung habe. Die Aufteilung nach vier Schuljahren führe dazu, "dass schwache Schüler abgeschoben statt individuell gefördert werden". In der jüngsten Pisa-Studie wird denn auch als eine von zehn resilienzfördernden Maßnahmen genannt: "Das Alter anheben, in dem die Aufteilung auf verschiedene Bildungswege erfolgt."

Politisch verräumte Materie

Leichter gesagt, als getan, zumal in Österreich, wo die Systemfrage seit Jahrzehnten nicht angetastet wird, weil die Positionen der Parteien (siehe Infobox unten) weit auseinanderliegen oder sie, wenn es sein muss, wie aktuell von ÖVP und Grünen, die zur gemeinsamen Schule komplett konträr stehen, als nicht koalitionsrelevante Materie verräumt wird.

Augen zu und weg ist das Problem, spielt es aber nur bei kleinen Kindern. "Wir müssen Schule grundlegend neu denken", meinte Bildungsminister Martin Polaschek nach der letzten Pisa-Studie in der Presse, sieht den Ball allerdings jetzt bei den Expertinnen und Experten.

Was also weiß die Bildungsforschung über die gemeinsame Schule, die "gute" Schule an sich? Michael Schratz, Gründungsdekan der School of Education an der Uni Innsbruck, beschäftigt sich seit vielen Jahren genau damit und hat auch als Vorsitzender der Jury des deutschen Schulpreises bis 2022 viele gute Schulen gesehen und ausgezeichnet.

Die "gute" Schule vor Ort "gemacht"

Auf die Frage, ob die gemeinsame Schule "die" Lösung sei, sagt er: "Eine ,gute Schule‘ wird am jeweiligen Standort von den Menschen ,gemacht‘, die sich um deren Verwirklichung im dortigen Umfeld kümmern." Schulen seien "komplizierte Ensembles", deren pädagogisches Handeln das Ziel habe, "alle Schülerinnen und Schüler in die Lage zu versetzen, die für die gesellschaftliche Zukunft erforderlichen Kompetenzen bestmöglich zu erwerben", erklärt Schratz: "Jede institutionelle Barriere im Schulsystem – die Selektion nach vier Jahren ist eine – verhindert Leistung und verstärkt Ungerechtigkeit."

Überhaupt dominiere im österreichischen Schulsystem "das Trennende": Das Wissen werde isoliert im Fächerkanon vermittelt, die Schülerinnen und Schüler landen vielfach gegen ihren Willen oder den ihrer Eltern in Schulformen, die nicht ihren Wünschen oder Vorstellungen entsprechen, der Unterricht findet klassenweise getrennt in Standardisierten Klassenzimmern statt, abgetrennt vom Leben draußen.

Neue Namen, alte Strukturen

Der internationale Vergleich zeige, dass in Österreich in den letzten Jahren "eher an Optimierungsprozessen als an den großen Fragen der Wirksamkeit des Gesamtsystems gearbeitet wurde", sagt Schratz und nennt etwa neue Namen und Funktionen für die Schulaufsicht oder stärkere Dokumentationspflichten an Schulen, während in vielen Ländern "die großen strukturellen Reformen seit längerem vollzogen sind, um den vielfältigen gesellschaftlichen Veränderungen besser gerecht werden zu können".

Allerdings, betont er, hänge der Erfolg eines Schulsystems "nicht allein von der Schulstruktur ab". Lehrqualität, Ressourcen, Lehrpläne, Bildungspolitik und gesellschaftlicher Kontext seien in großen Veränderungsprozessen immer mitzubedenken, "weil ein Musterwechsel Einfluss auf alle Bereiche hat. Deswegen in den alten Mustern zu verharren, würde Österreich aber immer weiter zurückfallen lassen."

Musterschule beginnt viel früher

Welches neue Muster würde Experte Michael Schratz also empfehlen? Zuerst "eine Aufwertung der frühkindlichen Bildung vor dem Schuleintritt". Damit ließen sich "bereits frühe Benachteiligungen zumindest so auffangen, dass die Streuung am Schulanfang nicht mehr solche Probleme schafft wie heute". Er nennt fehlende Deutschkenntnisse, aber auch soziale Verhaltensweisen.

Der Übergang in die Schule würde schon im Kindergarten von Lehrkräften mitgestaltet. Dann sollten die Kinder "je nach Neigung und Leistung jahrgangs- und klassenübergreifend in unterschiedlichen Settings an lebensrelevanten Themen arbeiten", ab dem fünften Schuljahr gäbe es aufbauend immer anspruchsvollere Lernangebote, nicht nur in akademischen, sondern auch berufsbildenden Leistungsbereichen – standortspezifisch gestaltet, wofür die Schulen Autonomie brauchen ("context matters"). Nach acht gemeinsamen Jahren käme in Schratz’ Modell der Übertritt in weiterführende Schulen, die die Bezeichnung Gymnasium behalten, "sich aber stärker in die Welt öffnen sollten". Denn, Schratz zitiert Andreas Schleicher: "Die Zukunft gehört denen, die offen für die Welt sind." (Lisa Nimmervoll, 22.1.2024)

Videodiskussion: Der Schulerfolg hängt laut Pisa-Studie in kaum einem anderen Land so sehr von der (sozialen) Herkunft der Schüler ab wie in Österreich. Was lässt sich dagegen tun?
DER STANDARD