Karl-Marx-Hof, im Vordergrund Menschen auf Gehsteig
Februar 1934, Wien-Heiligenstadt. An der Fassade des Karl-Marx-Hofs sind Zerstörungen durch Artilleriebeschuss zu sehen.
Foto: Austrian Archives / Brandstätter / Picturedesk

Es gibt in der österreichischen Zeitgeschichte wenig andere Themenbereiche, die ein solches ideologisches Minenfeld darstellen wie die 1930er-Jahre. Vergleichbar mit der Geschichtsschreibung des US-Amerikanischen Bürgerkriegs verrät beispielsweise allein die (Nicht-)Verwendung bestimmter Begriffe mehr über den Autor oder die Autorin eines Textes als über die beschriebene Zeitepoche selbst: Benutzt er oder sie das Wort "Austrofaschismus" oder schreibt von einer "Kanzlerdiktatur" beziehungsweise einfach nur vom "Ständestaat" – vielleicht auch noch ohne die Anführungszeichen? Gab es im Februar 1934 in Österreich einen "Bürgerkrieg", "Februarkämpfe" oder überhaupt nur einen "Aufstandsversuch"? War Engelbert Dollfuß ein "Faschist", ein "Diktator", ein "Kämpfer gegen den Nationalsozialismus" oder etwa alles zusammen?

Was für Außenstehende nach bloßer Wortklauberei gelangweilter Wissenschafterinnen und Wissenschafter klingt, verweist auf eine der essenziellen Fragen der Geschichtswissenschaft: Wie viel Ideologie, wie viel Subjektivität steckt in unserer Disziplin?

Gedenkjahre-Boom

Dies wird besonders ob der seit dem "memory boom" der späten 1980er-Jahre prominent zelebrierten Gedenk-, Bedenk- und Erinnerungsjahre deutlich. Nachdem der Kurier ein Gespräch zwischen dem Historiker Kurt Bauer und dem ÖVP-Altpolitiker Andreas Khol über die Geschehnisse in Österreich im Februar 1934 abgedruckt hat, antwortete im STANDARD der Historiker Florian Wenninger vom Institut für Historische Sozialforschung (siehe "Worum wir streiten").

Obwohl Wenninger das Gespräch zwischen Bauer und Khol nicht direkt erwähnt, wird deutlich, auf wen seine Kritik abzielt. Schritt für Schritt seziert er die zentralen Positionen der "anderen Seite", und während im Kurier der explizite Verweis bemüht wird, es gehe um eine "neutrale" Darstellung der Geschichte und dass alle anderen ja parteiisch seien, verweist Wenninger auf den Stand der Forschung.

Immer die anderen

Der Kampf um Deutungshoheit und Wahrheitsanspruch in der österreichischen Zeitgeschichtsforschung illustriert eine Paradoxie, die in der Antwort auf die von mir zu Beginn hier aufgeworfene Frage immer wieder zu beobachten ist: Subjektiv und ideologisch, das sind immer die anderen. Hier beißt sich die Katze aber in den erkenntnistheoretischen Schwanz. Denn (Geschichts-)Wissenschaft kann nicht "neutral" sein. Sie wird von Subjekten gemacht, die mit ihrem ganz eigenen Paket an Vorannahmen, Erfahrungen und gerade auch ideologischen Prädispositionen in der Gegenwart Aussagen über eine nicht mehr zugängliche Vergangenheit treffen. Diese Ausgangsposition gilt es offenzulegen, "Objektivität" bleibt aber ebenso unerreichbar wie der Horizont.

Als Wissenschaft müssen unsere Aussagen zwar methodischen und theoretischen Ansprüchen genügen – wir produzieren intersubjektiv nachvollziehbare und überprüfbare Fakten –, die Konstruktion von "Geschichte" ist aber ein subjektiver Akt. Dies bedeutet allerdings keine Beliebigkeit und ermöglicht keinen Revisionismus – eine Aussage ist entweder faktisch korrekt oder nicht –, in welchen Kontext Fakten aber gesetzt werden, ist nicht neutral.

Polemik und Apologetik

Der Februar 1934 stellt immer noch einen zentralen Erinnerungsort in der österreichischen Geschichte dar und ist als solcher auch 90 Jahre später noch heißumkämpft. Das Vermeiden eindeutiger Klassifikationen – wie es der Faschismusbegriff ist – oder klarer Antworten auf mögliche Schuldfragen ist aber kein Zeichen von Neutralität. Umso begrüßenswerter sind daher alle Versuche, Faktizität in eine von Polemik und Apologetik geprägte Debatte zu bringen.

Die Frage nach historischer Verantwortung kann zwar nicht "objektiv" geklärt, aber doch mit offenem Visier ausverhandelt werden – jenseits ideologischer und tagespolitischer Scheuklappen. (Martin Tschiggerl, 18.2.2024)