Die zwei Welten, von denen Alexander Chamorsow spricht, zeigt er mit seinen beiden Händen. Er legt sie weit voneinander entfernt auf dem Tisch vor sich. Die eine, die militärische Welt, sei schwarz-weiß und fühle sich deshalb oft einfacher an, sagt der 61-Jährige. "Es geht um die Grundbedürfnisse. Darum, dass man Nahrung und Kleidung hat. Es gibt Brüder und Schwestern. Und es gibt Feinde." In dieser Welt, in der die Instinkte und der Überlebenswille zählen, hat er nach der Maidan-Revolution und dem Kriegsausbruch in der Ostukraine 2014 selbst zwei Jahre freiwillig gelebt und gekämpft. Über die Beweggründe für diese Entscheidung denke er noch immer nach. "Manche meiner Freunde waren zu dem Zeitpunkt, als ich in den Donbass kam, bereits gestorben. Ich hatte das Gefühl, dass ich dorthin gehen muss; und dass es besser ist, wenn ich gehe, als die, die jünger sind."

Alexander Chamorsow, Veteran und Chefpsychologe des Crisis Support Hotline Project.
Alexander Chamorsow, Veteran und Chefpsychologe des Crisis Support Hotline Project.
Helena Lea Manhartsberger

Mittlerweile hat Chamorsow die Uniform gegen eine sportliche Daunenjacke getauscht, er trägt Brille und einen grauen Bart. Doch seine Statur verrät noch immer, dass er beim Militär war. Im Alltag, sagt er, sind es die vielen täglichen Routinen, der Hang zu Ordnung und die Zeitpläne, die er aus dieser Zeit mitgenommen hat und pflegt. "Planung ist für mich wichtig und macht mich glücklich. Sie zeigt mir, dass ich weiterleben werde, dass ich Pläne für das Leben habe."

Das Tabu brechen

Sich wieder an die zivile Welt anzupassen, das sei in vielerlei Hinsicht schwierig gewesen – und sei es bis heute. Plötzlich, sagt Chamorsow, nach zwei Jahren im Kampf, fühlte sich das Leben wieder bunt an. Doch in der zivilen Welt hat die Gesellschaft viele Schattierungen; das menschliche Verhalten, die Regeln und der Interpretationsspielraum von Meinungen und Handlungen sind komplexer. "Ich hatte den Eindruck, dass die Gesellschaft mich nicht akzeptiert", sagt er. "Dieser plötzliche Übergang war für mich mit Trauer verbunden. Ich glaube, das geht vielen so."

Fast eine Million Veteranen soll es in der Ukraine mittlerweile geben. Und zu den vielen, die seit 2014 – und dann in einem weiteren Schritt seit 2022 – kämpften, kommen die tausenden Mitarbeiter der Notdienste. Etwa der Feuerwehr, die nach den häufigen Angriffen die Verletzten und Toten bergen. Das medizinische Personal, das die Verwundeten versorgt und sich um die Rehabilitation der Kriegsversehrten kümmert. Die freiwilligen Helfer, die seit zwei Jahren in den Gebieten nahe der Front Menschen evakuieren. Die ukrainischen Journalisten, die über die Ereignisse berichten. Und die Zivilisten, die unter den Kampfhandlungen leiden und neben den Verwandten und Bekannten auch ihr Hab und Gut verlieren.

Für ihn selbst war das Weiterleben nach der Front oft schwer zu ertragen, sagt Chamorsow. Eine Zeitlang war Alkohol für ihn der Ausweg, um das Gefühl zu betäuben, dass er wohl nie mehr ganz reinpassen wird in das soziale Gefüge. Da waren Momente wie jener, als er in seiner alten Uniform und mit den Beinverletzungen aus dem Kampf im Bus saß und ihm ein junger Mann einen 500-Hrywnja-Schein (damals rund 18 Euro) zusteckte und sich für seinen Dienst bedankte. Da waren aber auch die Situationen, in denen er gefragt wurde, wie er seine eigenen Brüder töten könne.

"Freundschaft mit dem Alkohol"

"Während des Kriegs gibt es eigentlich immer eine Freundschaft mit dem Alkohol", so Chamorsow. "Ich habe diese Freundschaft nach dem Einsatz fortgesetzt." Doch irgendwann suchte er sich Hilfe. "Sobald ich anfing, mich damit zu befassen, verbesserte sich meine Situation", sagt er. Doch zu jener Zeit, im Jahr 2016, galt das Thema mentale Gesundheit in der Ukraine noch als tabuisiert, und für die psychischen Schwierigkeiten von Soldaten gab es laut Chamorsow kein Bewusstsein. Das für Veteranen zuständige Ministerium wurde erst zwei Jahre später gegründet.

"All das gab mir das Gefühl, dass die Gesellschaft mir gegenüber feindselig eingestellt sei", so Chamorsow. Bis zum Krieg hatte er als Designer gearbeitet – doch diesen Beruf wieder auszuführen, das war unvorstellbar. Stattdessen entschied er sich für ein Psychologiestudium. Zu dem Zeitpunkt hatten sich im Land bereits die ersten Organisationen für Veteranen gegründet, und als im Jahr 2019 die Suizid-Präventions-Hotline Lifeline Ukraine lanciert wurde, begann Chamorsow dort mitzuarbeiten.

Überall in Kiew finden sich Werbeplakate, die dazu aufrufen, sich verschiedenen Militäreinheiten anzuschließen. Hier wird die 3. Separate Angriffsbrigade beworben. Die Brigade wurde durch den Zusammenschluss der SSO-Einheiten (Special Operations Forces) des Asow-Bataillons gebildet, die von ehemaligen Veteranen des Asow-Bataillons gegründet worden waren. Russische Soldaten werden in der Ukraine oft als Orks bezeichnet und auch hier wie auf einem Filmplakat dargestellt.
Helena Lea Manhartsberger

"Während ich in der Kampfzone war, hatten wir mehrere Selbstmorde in der Einheit, über die natürlich niemand sprach und die auch nirgendwo aufgeführt sind – aber sie waren da", sagt er. Genaue Statistiken dazu werden in der Ukraine nicht veröffentlicht. Doch dass es gerade bei Soldaten und Veteranen häufig dazu kommt, liege auch am einfachen Zugang zu Waffen, sagt Chamorsow. "Wenn ich mich an meine Rückkehr erinnere, denke ich, dass ich dem auch sehr nahe kam, weil ich nicht verstand, wie man weiterleben konnte und was ich überhaupt mit meinem Leben tun sollte."

Lifeline Ukraine

Erfahrungen aus den USA zeigen, dass bei Veteranen die Wahrscheinlichkeit, durch einen Suizid zu sterben, eineinhalbmal höher ist als bei anderen Erwachsenen. Dabei sei Suizid eine der vermeidbarsten Todesursachen, wenn man einer Person nur im richtigen Moment die richtige Art von kritischer Unterstützung bieten könne, sagt Paul Niland. Der gebürtige Ire lebt seit Jahren in der Ukraine und ist Mitbegründer von Lifeline Ukraine. Und oft seien das eben Gespräche auf Augenhöhe, so der Ansatz der Hotline.

Mittlerweile häufen sich auch die Anrufe von Lebenspartnern, Verwandten und Freundinnen oder von Zivilisten. Allein im Jänner berichteten von den insgesamt 3.262 Anrufern 433 von suizidalem Verhalten, sagt Niland. Doch die meisten Gespräche drehen sich mittlerweile um Themen wie Einsamkeit und Angst, Depression oder um Fragen danach, welche Art von Hilfe es gibt.

"Etwa zehn Prozent unserer Anrufe stehen im direkten Zusammenhang mit dem Militärdienst", sagt Niland. "Wenn man bedenkt, wie viele Menschen in die Kämpfe verwickelt sind oder waren – und wie viele Menschen mit ihnen verwandt sind –, spiegelt das die Demografie der Bevölkerung des Landes wider." Dass so viele in der Ukraine den Krieg erlebt haben, hat dazu beigetragen, dass die Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen und Beratungen mittlerweile stark abgenommen hat. "Die Nachfrage nach Beratung ist stark angestiegen. Aber die Zugangsbarrieren sind jetzt viel niedriger, weil es viel mehr Hilfsangebote gibt", so der 51-Jährige.

Nina Karpenko, 37, ist Veteranin und aktiv bei Veteranka.
Nina Karpenko, 37, ist Veteranin und aktiv bei Veteranka.
Helena Lea Manhartsberger

Weit weg von der Front

Auf die Frage, was es für sie bedeute, Veteranin in einem Land zu sein, das noch immer angegriffen wird, antwortet Nina Karpenko: "Der Krieg vergisst dich nicht." Karpenko sitzt in einem unscheinbaren Bürogebäude in einem Wohnbezirk von Kiew, auf ihren kreisrunden Ohrringen ist der ukrainische Dreizack zu sehen. Hier im Hauptquartier der von Veteraninnen gegründete Organisation Veteranka knüpfen freiwillige Helferinnen, hauptsächlich Frauen, Tarnnetze oder schneidern Uniformen für Soldatinnen. "Man kann nicht einfach dasitzen und sich Sorgen machen. Wenn man nicht mit einer Waffe kämpfen kann, muss man eine zuverlässige Stütze sein", sagt Karpenko. Nach der Maidan-Revolution habe sie verstanden, dass sie für das Land, in dem sie leben will, auch einen Beitrag leisten müsse.

Weil sich mittlerweile wieder viele Veteraninnen an der Front befinden, konzentriert sich die Organisation seit dem 24. Februar 2022 vor allem auf die Unterstützung der Armee, in der laut dem ukrainischen Verteidigungsministerium auch mehr als 40.000 Frauen aktiv sind. Als Karpenko sich im Jahr 2014 entschied, in ein Freiwilligenbataillon einzutreten und in die Stadt Slowjansk im Donbass ging, wo der Krieg damals anfing, seien "Frauenangelegenheiten" noch kein Thema gewesen. "Damals war das Schwierigste für mich, dass man als Frau nicht ernst genommen wurde", sagt die mittlerweile 37-Jährige und berichtet, dass sie damals auf ihrem ersten Einsatz in weißen Turnschuhen losgezogen sei. "Ich habe niemandem gesagt, dass ich eine kleinere Schuhgröße benötige als die Männer. Das anzusprechen war einfach nicht angemessen."

Hoher Preis

Die meisten Frauen, mit denen sie gedient habe, meldeten sich vor zwei Jahren wieder freiwillig, und auch Karpenkos Mann kämpft. Sie selbst kümmert sich um ihr dreijähriges Kind. "Es ist psychologisch sehr schwierig zu akzeptieren, dass ich nicht dort bin", sagt sie. Die umkämpften Gebiete und das Leben an der Front fühlen sich in der ukrainischen Hauptstadt weit entfernt an. "Solange die Menschen nicht direkt betroffen sind, wenn ein Angehöriger stirbt oder ein Haus zerstört wird, vergessen sie", sagt Karpenko. "Diejenigen, die auf dem Schlachtfeld waren, erinnern sich jeden Tag."

Aus der Ferne beobachte sie die militärische Lage, tausche sich mit Bekannten aus, analysiere die Situation. "Wenn man gekämpft hat, ist es einerseits einfacher, die Situation zu verstehen", so Karpenko. Doch das bedeute auch, dass man bestimmte Entwicklungen vorhersehen könne. So wie viele im Land bedauert sie die Absetzung von Armeechef Walerij Saluschnyj Anfang Februar. Der neu ernannte Oleksandr Syrskyj ist bei vielen unbeliebt. "Er gilt als aggressiver in seiner militärischen Herangehensweise. Als einer, der weniger auf die Verluste achtet. Vielleicht werden wir gewinnen, aber der Preis wird höher sein." Und der Krieg, davon ist sie überzeugt, werde noch Jahre andauern.

Perspektive für die Rückkehrer

Alexander Chamorsow sagt, dass er den Führungswechsel als reine Veränderung zu betrachten versucht. Als etwas, über das er keine Kontrolle hat und von dem er seinen emotionalen Zustand nicht abhängig machen will. Ansonsten könne er seine Arbeit nicht gut machen. Mittlerweile ist Chamorsow leitender Psychologe einer Krisenhilfehotline des Ministeriums für Veteranenangelegenheiten. Nebenbei arbeitet er noch immer bei Lifeline Ukraine.

Normalerweise beginne er die Gespräche damit, dass er sich bedanke für den Dienst, den die Anrufenden erwiesen haben, sagt Chamorsow. Darauf folgt die Frage nach dem Grund für den Anruf. Dann der Dialog, in dem er erklärt, dass er selbst in ähnlichen Situationen war. Die gegenseitige Unterstützung, das Zuhören und Erzählen – das sei gerade jetzt wichtiger denn je. Bestimmte Fragen würden sich im Gespräch verbieten. "Für einen Veteranen gibt es Gut und Böse, es gibt Verrat oder Sieg – aber es gibt keinen Mittelweg. Es kann also zu Aggressionen führen, wenn ich in so einer Situation fragen würde, ob die Person Angst hat", so Chamorsow.

Eine der größten Veränderungen im Verlauf der letzten Jahre betreffe das Alter der Anrufer. Die heutigen Veteranen seien viel jünger als er: Menschen, die noch keine Familie oder keinen festen Arbeitsplatz haben. "Das wird ihre Rückkehr beeinflussen", sagt er. "Das sind Menschen, die sich selbst von Grund auf neu suchen werden. Darin liegt der Unterschied." Dass die Ukraine die Mobilisierung weiter vorantreiben und mehr Menschen einberufen wird müssen, wird diese Entwicklung wohl weiter antreiben. "Meine Generation war vor dem Kriegseinsatz schon ausreichend an das zivile Leben angepasst."

Die Gesellschaft müsse sich gut überlegen, was sie den jungen Rückkehrern an Perspektiven zu bieten hat und wie sie mit ihnen umgehen wird. Doch gerade die Frage nach der Perspektive bleibt derzeit offen. Ob er noch immer überzeugt sei, dass die Ukraine gewinnen wird? Chamorsow zögert. "Ich habe keine Antwort auf diese Frage. Ich kann die Ereignisse nicht vorhersagen, ich kann diese Ereignisse nicht beeinflussen. Aber in meinem Herzen muss die Ukraine natürlich gewinnen." (Daniela Prugger aus Kiew, 3.3.2024)