Als Joseph II. 1782 mit seinem zweiten Toleranzpatent nach den Protestanten und den Orthodoxen auch seinen jüdischen Untertanen größere Freiheiten in der Religionsausübung zugestand, bedeutete dies die endgültige Abwendung von der antijüdischen Politik seiner Mutter Maria Theresia. Die Motive des Kaisers, Juden, Protestanten und Orthodoxe mit diesen Edikten einer allmählichen Gleichstellung mit den Katholiken in seinem Herrschaftsgebiet zuzuführen, waren wohl mehrheitlich utilitaristisch, also ökonomischer Natur. Dem Kaiser der Aufklärung ging es in all seinen Reformen in erster Linie um einen besser funktionierenden Staat und eine blühende Wirtschaft.

Schon in seiner Zeit der Mitregentschaft mit seiner Mutter Maria Theresia (1765–1780) hatte Joseph II. den Juden von Brody in Galizien in der heutigen Ukraine auf einer Reise 1773 zugesichert, sich für sie einzusetzen. Nach dem Vorbild von Triest erklärte er Brody zur Freihandelszone und sorgte damit für einen unerhörten wirtschaftlichen Aufschwung zu einem der wichtigsten Handelsplätze Ostmitteleuropas. Seiner Mutter schrieb Joseph durchaus provozierend (schließlich wusste er, wie sehr sie Juden hasste), dass in ihrem neuen Kronland 44.000 Juden leben würden.

Religionsfreiheit oder Intoleranz war ein wichtiges Streitthema der beiden, wie die umfangreiche Korrespondenz zwischen Maria Theresia und Joseph II. belegt. Und es war eindeutig eines dieser weltanschaulichen Themen, die der Sohn – und ist es nicht bis heute in Eltern-Kind-Beziehungen so? – unbedingt verändern wollte. Denn seine Mutter galt mit ihrem irrationalen Hass auf Juden und ihrer unerbittlichen Intoleranz gegenüber Protestanten schon zu ihrer Zeit als hoffnungslos altmodisch und hinterwäldlerisch. Und zwar schon, als sie mit 23 Jahren auf den Thron des Habsburgerreichs gekommen war und im Jahr 1744, mitten im Erbfolgekrieg, die Ausweisung der Juden aus Prag befahl. Der Erbfolgekrieg war ausgebrochen, weil die Fürsten Europas die weibliche Erbfolge, die sie in der Pragmatischen Sanktion ihres Vaters Karls VI. unterschrieben hatten, nun doch nicht akzeptieren wollten und über die junge Königin herfielen. Sie stand also, zumindest das muss man zugestehen, unter Druck.

Die Situation der Juden zur Zeit Maria Theresias

Wie ein Donnerschlag traf der Ausweisungsbefehl vom 18. Dezember 1744 die jüdische Gemeinde in Prag und hallte fortan in ganz Europa nach, wie in der internationalen TV-Koproduktion "Maria Theresias dunkle Seite. Die Vertreibung der Juden aus Prag" (ORF, Arte, Br, CTV 2023/24) lebhaft nachvollziehbar wird. Denn die jüdische Gemeinde war nicht irgendeine Gemeinde, sondern die wichtigste und größte und eine der ältesten Gemeinden in Europa.

Maria Theresia befiehlt am 18. Dezember 1744 die Vertreibung der Juden aus Prag. (Filmstill aus "Kaiserin Maria Theresias dunkle Seite – Die Vertreibung der Juden aus Prag").
(c) Oliver Indra/Epo-Film

Am Ende der Frühen Neuzeit gab es im Heiligen Römischen Reich einen bunten Flickenteppich sehr unterschiedlicher jüdischer Siedlungs- und Lebensbedingungen. So durften in vielen Städten – etwa in den Reichsstädten Köln, Augsburg, Nürnberg oder Regensburg – gar keine Juden leben. Dann gab es Residenzstädte wie Wien, die ihre Juden schon 1670 vertrieben und seither nur die Ansiedlung von einigen jüdischen Hoffaktoren (Kaufmänner, die für die Geschäfte bei Hofe zuständig waren) und ihren Familien wieder zugelassen hatten.

In den Residenzstädten Mannheim oder Berlin wurden Juden hingegen aufgenommen. Das Gros der Juden lebte indes in Dörfern und Kleinstädten auf dem Land. In Ländern wie Böhmen und Mähren wohnten verhältnismäßig viele Juden (ganz zu schweigen von Galizien, das vor der ersten polnischen Teilung zu Polen gehört hatte), es gab aber auch solche, etwa die österreichischen Erblande, in denen sich kaum Juden niederlassen konnten.

Trotz gewachsener Rechtssicherheit und stabilerer Siedlungsbedingungen war jüdisches Leben geprägt von einer restriktiven Politik und fortgesetzter Diskriminierung. Mit einem Wort, die Situation der Juden zu Beginn von Maria Theresias Herrschaft und die nach dem Erlass der Toleranzpatente durch ihren Sohn Joseph II. war kaum vergleichbar, selbst wenn die endgültige Gleichstellung der Juden im Habsburgerreich erst 1867 erreicht wurde.

Die letzte große Vertreibung vor dem Holocaust

Kaum 40 Jahre vor dem Erlass der Toleranzpatente kam es zur letzten großen Vertreibung der Juden im alten Europa vor dem Holocaust. Doch was führte zu dieser unrühmlichen Entscheidung der zur Mutter ihrer Völker hochstilisierten Habsburgerin? Eine Geschichte, die wenig bekannt ist und auch im Jubiläumsjahr 2017 kaum erwähnt wurde.

Hätte es zu Maria Theresias Zeit in Wien eine jüdische Gemeinde mit einer größeren Anzahl jüdischer Familien gegeben – so könnte man kontrafaktisch gedacht hinzufügen – so hätte die junge Erzherzogin wohl auch diese Gemeinde loszuwerden versucht. Doch die Wiener Gemeinde hatte schon ihr Großvater Leopold I. aus dem Unteren Werd, der heutigen Leopoldstadt, vertrieben. Seitdem gab es nur noch wenige, große Haushalte der reichen jüdischen Hoffaktoren, die für den Hof unentbehrlich waren.

Was war der Grund für die Vertreibung?

Die junge Erzherzogin war eine Katholikin voll religiösen Eifers und vertrat einen rigorosen Antijudaismus: Juden wollte sie in ihren Ländern nicht dulden. Zugleich war sie überzeugt, als absolutistische Herrscherin ihren Willen kompromisslos durchsetzen zu können – auch gegen alle rationalen Argumente.

Als in Prag im Herbst 1744 das Gerücht aufkam, die Juden hätten während der Besetzung der Stadt durch das preußische Heer mit dem Feind kollaboriert, sah sie ihre Chance gekommen. Am 18. Dezember unterschrieb sie den Befehl, dass die Prager Juden bis Ende Januar 1745 die Stadt verlassen müssen. Ein knappes halbes Jahr später sollten die jüdischen Bewohner ganz Böhmens folgen.

Im Zeitalter der Aufklärung eine unzeitgemäße Maßnahme

Nur die Hardliner unter ihren Zeitgenossen stimmten ihr zu. Denn im Zeitalter der heraufziehenden Aufklärung war breit anerkannt, dass auch Juden Rechte hätten und menschlich zu behandeln seien – und dass ihr Beitrag zur Wirtschaft eines Landes dem Staat und seinen Bürgern nütze. Judenvertreibungen galten als nicht mehr "zeitgemäß".

Dies machten sich nun die gut vernetzten Mitglieder der europäisch-jüdischen Elite in einer diplomatischen Kampagne zunutze. Schriftlich und mündlich wandten sie sich an die Herrscher Europas mit der dringenden Bitte, in Wien diplomatisch vorstellig zu werden. Unter den Adressaten befanden sich Herrscher, von denen man dort einen positiven Einfluss erwartete: die Könige von England, Polen und Dänemark, die Generalstaaten der Niederlande, der Papst und der Sultan. Auch einflussreiche deutsche Kurfürsten gehörten dazu. Der Bitte um zügige diplomatische Intervention kamen die Herrscher nach – in Briefen, aber auch indem ihre Gesandten persönlich vorstellig wurden.

Doch nach der Entbindung von ihrem Sohn Karl Joseph hatte sich Maria Theresia zurückgezogen und empfing keine Gesandten mehr. Auf alle Versuche aus ihrem Umfeld – selbst ihr Gemahl Franz Stephan, ja ihre Mutter waren Gegner des Befehls – sie umzustimmen, reagierte sie mit zorniger Ablehnung. Mehr als eine zweimalige Verschiebung des Ausweisungstermins um jeweils einen Monat gestand sie nicht zu.

Über 10.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder verließen so Ende Februar, Anfang März 1745 Prag und kamen meist in der Umgebung notdürftig unter. Dass die Vertreibung aus ganz Böhmen im Mai 1745 zunächst verschoben und dann gar nicht mehr durchgeführt wurde, war ihre Rettung: 1748 musste Maria Theresia ihren Befehl ganz zurücknehmen. Denn die Wirtschaft ihres wichtigsten Kronlandes hatte stark unter der Ausweisung der Juden gelitten. Die Auswüchse der unterbrochenen Lieferketten waren im ganzen Heiligen Römischen Reich zu spüren.

Als Maria Theresia, vermittelt durch ihren Finanzminister Friedrich Wilhelm von Haugwitz (ein konvertierter Protestant) bei den böhmischen Landständen höhere Steuern durchsetzen wollte, stieß sie auf eiserne Ablehnung – es sei denn, die Juden Prags dürften zurückkehren. Das zwang sie zum Umdenken – aus politischer Räson, nicht etwa, weil sich ihre Anschauung geändert hätte. Nach hohen Geldzahlungen durften sich die Juden wieder im zerstörten Prager Ghetto niederlassen. Mit Hilfe der Christen bauten sie es wieder auf.

Die erste diplomatische Aktion der Juden als Volk vor der Staatsgründung

Fürsprache zugunsten jüdischer Gemeinden hatte es immer schon gegeben. Eine Gemeinde suchte sich einen Schtadlan, einen Fürsprecher, der ihre Sache bei den jeweiligen Obrigkeiten vertrat. Neu an der Kampagne für die Prager Juden 1744/45 ist ihre hohe Professionalität. Nicht eine eindimensionale Fürsprecherbeziehung wurde aufgebaut, sondern ein Kommunikationsnetzwerk aus Angehörigen der jüdischen Elite, die sich gegenseitig mobilisierten. Sie koordinierten ihre Informationsvermittlung und ihre Argumentation und lieferten ihren Adressaten bereits vorformulierte Briefentwürfe. Damit erreichten sie eine Geschwindigkeit der Kampagne, die im Zeitalter von Pferd und Postkutsche (und selbst an heutigen Maßstäben gemessen) kaum vorstellbar ist, trafen doch die Protestschreiben bei Maria Theresia binnen weniger Wochen ein.

Ein zentraler Knotenpunkt dieses Kommunikationsnetzes war das Kontor des kaiserlichen Oberhoffaktors Wolf Wertheimer (1681–1765) in Augsburg. Er brachte seine diplomatischen Erfahrungen in die Kampagne ein und schrieb rastlos mithilfe seines Sohnes Salomon Briefe. Doch auch die Kontakte und das Wissen der schwäbischen Landesvorsteher vor Ort nutzte er. Sein Sohn Samuel berichtete ihm aus Wien, dem Stammsitz der Familie.

Wolf Wertheimer steht im Zentrum der europaweiten Kampagne gegen den Vertreibungsbefehl. (Filmstill aus "Kaiserin Maria Theresias dunkle Seite – Die Vertreibung der Juden aus Prag")
Oliver Indra/Epo-Film

Ein weiteres Zentrum der Kampagne war der in Wien ansässige Diego d'Aguilar, ein sephardischer Jude und englischer Staatsbürger, der von Maria Theresias Vater Karl VI. das Tabakmonopol erhalten hatte und zum Baron des Heiligen Römischen Reichs geadelt worden war. Aguilar war wahrscheinlich der einzige Jude, der zumindest anfänglich noch Zugang zu Maria Theresia hatte – schließlich verschaffte er der Herrscherin die nötigen Kredite zum Ausbau von Schloss Schönbrunn. Doch in der Causa der Vertreibung der Juden aus Prag konnte selbst er – 1742 hatte er gemeinsam mit dem mährischen Oberrabbiner Issachar Berush Eskeles noch die Vertreibung der Juden aus Mähren verhindern können – nichts ausrichten.

Unbeabsichtigte Folgen führen zur Revision

Die verheerenden Folgen des Ausweisungsbefehls der Monarchin wurden in einem Bericht einer extra dafür eingesetzten Kommission untersucht. Der viele Seiten starke Bericht beziffert die Verluste für jeden Wirtschaftszweig penibel und rechnet das Ganze auf die nächsten Jahre hoch. Eine ähnliche Untersuchung nahmen auch Vertreter der jüdischen Gemeinde von Prag vor – im Exil im böhmischen Brandeis (Brandýs nad Labem). Die kaiserliche Domäne wurde von Statthalter Philipp Kolowrat verwaltet, einem expliziten Förderer der Juden, der ihre Ansiedlung in Brandeis ermöglicht hatte. Auch ihre Untersuchung kommt zu einem ähnlichen Schluss.

Dass die Auswirkungen der durch die Vertreibung behinderten Handelsströme und unterbrochenen Lieferketten bald im ganzen Heiligen Römischen Reich – zum Beispiel auf der Messe in Frankfurt – zu spüren waren, war eine weitere unbeabsichtigte, 1745 für Maria Theresia höchst unliebsame Folge. Denn im Januar 1745 war der Kurzzeitkaiser Karl VII., ein Wittelsbacher, gestorben und Maria Theresia wollte – schließlich lag die Kaiserkrone seit 300 Jahren mit Ausnahme dieses Wittelsbacher'schen Intermezzos in den Händen der Habsburger – nun ihren Gemahl Franz Stephan von Lothringen für die Wahl am 13. September in Frankfurt ins Spiel bringen. Dafür waren die Nachrichten aus Böhmen nicht gerade hilfreich, zumal sich auch zwei Kurfürsten, der Erzbischof von Mainz und der Erzbischof von Köln, gegen die Vertreibung ausgesprochen hatten.

Am 4. Oktober 1745 wurde Franz Stephan tatsächlich als Franz I. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reichs gekrönt. Ob Maria Theresia in der Causa der Juden Zugeständnisse hatte machen müssen, ist nicht bekannt. Doch die Aussetzung der Vertreibung der Juden aus Böhmen im Mai 1745 könnte ein Indiz dafür sein, dass der Druck auf die Herrscherin doch langsam zu wirken begann.

Erfolg oder Misserfolg einer ersten Großkampagne der Juden

Historiker aller Couleur haben die Frage diskutiert, ob die Kampagne der europäischen Juden gegen den Vertreibungsbefehl Maria Theresias ein Misserfolg oder ein Erfolg war. Vordergründig lässt sich feststellen, dass die Kampagne, was das Ausmaß der Mobilisierung betrifft, zwar sehr erfolgreich war. Am Ende ist sie jedoch gescheitert. Denn die absolutistische Herrscherin ließ sich trotz zahlreicher Bittschriften und Vorstellungen von Gesandten nicht umstimmen.

Andererseits, so wird ebenfalls argumentiert, hat die diplomatische Großaktion das Selbstbewusstsein der jüdischen Führungselite gestärkt. Die Erfahrung, berechtigte Anliegen des jüdischen Volkes mithilfe eines sich über ganz Europa spannenden Netzwerks bei wichtigen Herrschern zu Gehör bringen zu können, war die erste diplomatische Großaktion der Juden vor der Staatsgründung – wie sie der israelische Politologe, Historiker und Politiker Shlomo Avineri bezeichnete – und eine gute Ausgangsbasis für die Emanzipationsbewegung der Juden.

Die Geschichte rund um die Vertreibung der Juden aus Prag ist bis heute von großer Allgemeingültigkeit, Symbolhaftigkeit und Aktualität – ein Muster, das sich durch die europäische Geschichte zieht und die verheerenden Folgen von 2.000 Jahren christlichem Antijudaismus aufzeigt. (Monika Czernin, Rotraud Ries, 1.3.2024)