1934 Dollfuß SPÖ ÖVP Austrofaschismus
Februar 1934: ein Militärposten vor dem Karl-Marx-Hof in Wien Heiligenstadt.
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Mit voller emotionaler Wucht ist 90 Jahre danach "1934" zurück, und dies trotz des langen zeitlichen Abstands und des Verlusts der letzten Zeitzeugen (oder gerade deshalb?).

Was in den Debatten heute jedenfalls zu kurz kommt, sind die außenpolitischen Aspekte und die Einordnung der Ereignisse in die zeitgenössische mitteleuropäische Landschaft. Österreich war in den 1930er-Jahren aber keine isolierte "Insel der Unseligen", wie es der Historiker Bertrand Buchmann nannte, oder gar ein Demokratie-Labor, sondern als Resultat der Nachkriegsordnung der Pariser Vororteverträge von 1919 eher Objekt denn Subjekt der internationalen Politik.

"Der Hauptgegner stand jedenfalls ,links', dies sowohl aus Klasseninteressen der Machthaber heraus als auch aus ihrem Erfahrungshorizont."

Der italienische Faschismus strebte nach Einfluss in (Mittel-)Europa, in Deutschland propagierten die Nationalsozialisten die Revision. Beide richteten ihre Blicke nach Österreich. Mussolini finanzierte die Heimwehr für seine Interessen, während Hitler das Existenzrecht des österreichischen Staates überhaupt infrage stellte und neben seiner Rolle als deutscher Kanzler wie ein skrupelbefreiter "innerösterreichischer Oppositionsführer" – so der Historiker Dieter Binder – agierte. An der Erhaltung der Demokratie hatten beide kein Interesse.

Diese war auch in anderen 1918/19 geschaffenen Staaten Ostmitteleuropas längst vom Tisch. In allen waren zunächst parlamentarisch-demokratische Regierungsformen installiert worden. Wirtschaftlich unterentwickelt, mit einem geringen Modernisierungs- und Industrialisierungsgrad, waren sie geprägt vom Übergewicht feudaler und kleinbäuerlicher agrarischer Strukturen, verkürzt gesagt, der Vorherrschaft des Dorfes über die Stadt. Dementsprechend schwach waren auch die Sozialdemokratien, die mit den kommunistischen Parteien um das (Agrar-)Proletariat konkurrierten.

Alte Eliten

Schon in den späten 1920-Jahren hatten die alten Eliten aus Militär, Kirchen, Adel, Industrie und Großgrundbesitz das Heft in die Hand genommen, verboten die KP, oft auch die Sozialdemokraten und regierten mit oder ohne (Schein-)Parlament autoritär, von Smetonas Litauen über Horthys Ungarn bis zur Königsdiktatur in Jugoslawien. Zugute kam ihnen, dass die parlamentarische Ordnung in weiten Teilen Europas unpopulär geworden war. Im Gegensatz zu den Faschisten waren diese (Halb-)Diktaturen nicht revolutionär, sondern reaktionär und entstammten keiner Bewegung von "unten", sondern einer Transformation der Macht von "oben". Die heimischen Faschisten waren situativ als "Koalitionspartner" willkommen oder wurden als Regimegegner verfolgt.

Der Hauptgegner stand jedenfalls "links", dies sowohl aus Klasseninteressen der Machthaber heraus als auch aus ihrem Erfahrungshorizont. Ihnen saßen die russische Oktoberrevolution und der Sowjet-Kommunismus im Nacken, mitsamt der ökonomischen wie psychischen Liquidierung von Adel, Bürger- und Bauerntum und bald Millionen von Toten. Fast alle wollten sich mit Nazi-Deutschland arrangieren, um an der Macht zu bleiben oder diese auszudehnen. Hitler galt in den 1930er-Jahren noch als "nur"- diktatorischer Großmachtpolitiker, Holocaust und Vernichtungskrieg überstiegen den Erwartungshorizont von Anhängern wie Gegnern.

Zwei Ausnahmen stachen zu Beginn der 1930er-Jahre aus dem autoritären Umfeld heraus: Österreich und die Tschechoslowakei, beide industriell-agrarische Mischstaaten, mit bürgerlich-bäuerlichen Mehrheitsparteien und starken Sozialdemokratien. Während die tschechische Sozialdemokratie Teil diverser Regierungen war, blieb die österreichische in (zum Teil selbstgewählter) Opposition. Die SP in der Tschechoslowakei bekannte sich vorbehaltlos zur Demokratie und musste deshalb gegen eine starke KP bestehen. In Österreich blieb die KP eine "Sekte", und die SP nahm eine recht uneindeutige Haltung zur Demokratie ein. Zwar wollte man auf demokratischem Weg die Macht erringen, falls jedoch die "Bourgeoisie" bei der darauffolgenden Errichtung des "Sozialismus" Widerstand leisten sollte, so sei dieser mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.

Verhasstes Feindbild

Verwirklicht wurde die Diktatur dann jedoch von den Christlichsozialen mit Dollfuß 1933/34, der vorerst im Kampf gegen die Sozialdemokratie auch mit den Nazis kooperieren wollte, um dann zu deren Opfer und weit über seinen Tod hinaus verhasstes Feindbild zu werden. Wie viele ostmitteleuropäische bürgerliche Bewegungen standen die österreichischen Christlichsozialen in Koalition mit einer faschistischen Bewegung, der Heimwehr, die jedoch bald an Einfluss verlor und 1936 aufgelöst wurde.

Typologisch weist das "ständestaatliche" Österreich so gesehen wesentlich mehr Parallelen zu den ostmitteleuropäischen Regierungsdiktaturen auf als zum originären Faschismus, auch wenn es diesen imitierte, wie der Historiker Ernst Hanisch festhielt. Und anders als andere autoritär regierte Staaten geriet Österreich früh ins Fadenkreuz der Nazis und leistete Widerstand. Die Niederschlagung des NS-Putsches im Juli 1934 kostete neben dem Kanzler 105 Menschen das Leben, hunderte (Todes-)Opfer folgten. Hauptziele des NS-Terrors waren neben Exekutive und Regierungsfunktionären Juden und Jüdinnen. 2000 hatte Österreich nach 1933 als Emigrantinnen und Emigranten aus Deutschland eingebürgert – alles Fakten, die in der heutigen Debatte keine Erwähnung fanden oder gar gewürdigt wurden, obwohl gerade diese das Regime aus seinem Umfeld herausheben. Zur gleichen Zeit hatte das spätere Nazi-Opfer Polen einen Nichtangriffspakt mit NS-Deutschland abgeschlossen, andere folgten, die westlichen Garantiemächte von 1919 sahen zu.

Länder- und Systemvergleiche dienen der Einordnung und bewahren davor, in Schwarz-Weiß-Denken und einen nationalen Tunnelblick zu verfallen, der die Diskussion der vergangenen Wochen dominierte. (Niklas Perzi, 9.3.2024)