Kafkas langjährige Verlobte Felice Bauer ist Max Brods Cousine, die Kafka nur oberflächlich kennenlernt, aber dann wochen- und monatelang mit Briefen überhäuft. Ohne sich wirklich zu kennen, verloben sie sich. Lia von Blarer (Felice Bauer), Joel Basman (Franz Kafka).
Franz Kafka (Joel Basman) und seine langjährige Verlobte Felice Bauer (Lia von Blarer).
ORF/Superfilm

Aus der Streamingperspektive war "Kafka" aufgelegt. Mehr noch als beim Film ist das Serienuniversum voll mit Außenseiterinnen und Außenseitern. Eine blitzgescheite Schachspielerin, die gegen chauvinistische Gegner siegt, ein genialer Privatdetektiv, der gegen eigene und fremde Dämonen kämpft, eine Gruppe von Nerds, die Monster bezwingt – die Liste ließe sich endlos fortsetzen. Außenseiter haben ihren Stammplatz im Streamingfernsehen.

In diese Gemeinschaft der außergewöhnlichen Menschen passt Franz Kafka – oder zumindest das Bild, das sich von ihm geformt hat. Komme heute die Sprache auf den Schriftsteller, stelle sich sofort ein "Schularbeitsgefühl" ein, sagt David Schalko. Im Unterricht wurden die Werke Kafkas konsequent als "deprimierend" missverstanden. Gegen diese und andere Klischees tritt David Schalko an, der bei der sechsteiligen Serie Regie führte. Sie zeigt, wie sich das Leben in die Werke Kafkas einschrieb. Die Drehbücher schrieb Daniel Kehlmann.

Um den "anderen" Kafka, gespielt von Joel Basman, kreisen eine Menge Zeitgenossen: allen voran Max Brod (David Kross), der in Kafka den weltbesten Schriftsteller sah und für ihn bei Verlegern warb, der tyrannische Vater, fleischig gespielt von Nicholas Ofczarek, die Frauen, die er oder die ihn liebten – Felice Bauer (Lia von Blarer), Milena Jesenská (Liv Lisa Fries), Dora Diamant (Tamara Romera Ginés); Bewunderer und Zeitgenossen: Rilke (Lars Eidinger), Werfel (Christian Friedel), Musil (Verena Altenberger). Charly Hübner spielt den Verleger Rowohlt, als Felice Bauers Mutter tritt Anne Bennent in Erscheinung, Katharina Thalbach gibt eine fuchtelige Vermieterin. Fad wird's nicht. Der ORF zeigt "Kafka" am 24. und 25. März, die ARD zieht am 26. und 27. nach. Am 3. Juni 2024 jährt sich Franz Kafkas Todestag zum 100. Mal.

STANDARD: Was fasziniert Sie an Kafka?

Schalko: Als Erstes natürlich seine Literatur. Es gibt kaum einen Schriftsteller, der sein reales Leben auf die Art und Weise mit seiner Literatur verbunden hat, nämlich nicht autofiktional, wie wir es heute kennen, sondern er hat konkrete Ereignisse auf eine mythologische Ebene gehoben. Aus der Anklage von Felice Bauer, die er nicht heiraten will, entsteht "Der Prozess", wo es darum geht, dass jemand verhaftet wird und nicht weiß, warum. Dadurch entsteht aus einem konkreten Gefühl Allgemeingültigkeit. Etwas, das sich als moderner Mythos in unsere kulturelle DNA einspeichert. Sein Zugang zur Literatur ist kompromisslos. Er war unabhängig vom Literaturbetrieb und nicht darauf erpicht, veröffentlicht zu werden. Kafka fasziniert mich, weil Eitelkeiten keine Rolle spielen, weil er vor allem für sich selbst geschrieben hat und mit Schreiben versucht hat, etwas zu kartografieren, das erst durch das Schreiben sichtbar geworden ist. Ich teile diesen Zugang zum Schreiben. Wobei ich dem sicherlich nicht auf diese Weise gerecht werde. Kafka war wahrscheinlich der beste Schriftsteller des 20. Jahrhunderts – sowohl stilistisch als auch was den Tiefgang seiner Geschichten betrifft.

"Der Mann, der verhaftet wird und nicht weiß, warum, ist eine Situation, die in Russland heute jeder kennt. Jemand, der sich metaphorisch in ein Ungeziefer verwandelt und aus Scham das Zimmer nicht verlässt, ist ein Zustand, der auf Social Media nicht unbekannt sein dürfte."

STANDARD: Was kann uns Kafka heute sagen?

Schalko: Das Gleiche wie damals. Die Szenarien, die er beschreibt, sind zeitlos und allgemeingültig. Vermutlich gilt er deswegen als prophetischer Schriftsteller. Der Mann, der verhaftet wird und nicht weiß, warum, ist eine Situation, die in Russland heute jeder kennt. Jemand, der sich metaphorisch in ein Ungeziefer verwandelt und aus Scham das Zimmer nicht verlässt, ist ein Zustand, der auf Social Media nicht unbekannt sein dürfte. Wie K. in der Fremde auf die Erlaubnis des Schlosses wartet, um Bleiberecht zu erlangen. Auch das kennt man heute zur Genüge. Das Schloss als Metapher der Verheißung. Es gibt zu all seinen Romanen reale Entsprechungen in der Gegenwart.

STANDARD: Mit welchen Quellen haben Sie gearbeitet?

Schalko: Unsere Hauptquelle war natürlich die großartige Biografie von Reiner Stach, zusätzlich haben wir aber viele andere Quellen benutzt, von Briefen, Biografien, Tagebüchern bis zu alten Zeitungsartikeln. Wie der jiddische Schauspieler Löwy sprach und wirkte, wussten wir beispielsweise aus einem New Yorker Porträt, das Isaac Bashevis Singer über ihn schrieb. Wir haben auch Werke von Werfel, Brod, Baum, Milena Jesenská und vielen anderen gelesen. Es war eine jahrelange Beschäftigung.

STANDARD: Wo haben Sie sich künstlerische Freiheiten erlaubt?

Schalko: In der Inszenierung sind viele künstlerische Freiheiten enthalten. Alles, was in der sogenannten Realität spielt, versucht, mit der Literatur von Kafka Kontakt aufzunehmen. Also zum Beispiel in der Post, in der Brod arbeitet, sind die Angestellten bis in eine scheinbare Unendlichkeit gespiegelt. Oder die Wohnung der Kafkas wird man so im Grundriss nie finden. Das Wohnzimmer umringt von einem Flur, man kann es von allen Seiten betreten. Die Wohnung erzählt die Psychologie dieser Familie. Jeder Ort könnte auch einem Kafka-Roman entstammen.

STANDARD: "Kafka" setzt auf eine Stilmischung. Was haben Sie sich von Wes Anderson abgeschaut?

Schalko: Heutzutage ist man immer schnell mit Wes Anderson. Sobald etwas manieriert wirkt, heißt es automatisch Wes Anderson.

"Der Wes-Anderson-Vergleich wird heute mindestens so überstrapaziert wie das Wort kafkaesk. Wenn es um Referenzen geht, kann ich aber als Beispiel die Wohnung in 'Fanny und Alexander' von Ingmar Bergman als Vorbild nennen. Oder die Prozessszene ist eine Anlehnung an 'Alphaville' von Godard."

STANDARD: Der Erzähler schildert im Hintergrund eine Geschichte, die sich vor den Augen der Zuschauerinnen und Zuschauer wie ein Laufband abspielt.

Schalko: Das sind ja alles Stilmittel, die nicht neu sind. Fellini, Woody Allen und ganz viele andere haben oft zu ganz ähnlichen Stilmitteln gegriffen. Wes Anderson steht für mich für eine gewisse Art von greller Farbwelt, für gewisse Bildausschnitte und eine Haltung in der Inszenierung. Da sehe ich keine Ähnlichkeiten. Der Wes-Anderson-Vergleich wird heute mindestens so überstrapaziert wie das Wort kafkaesk. Wenn es um Referenzen geht, kann ich aber als Beispiel die Wohnung in "Fanny und Alexander" von Ingmar Bergman als Vorbild nennen. Oder die Prozessszene ist eine Anlehnung an "Alphaville" von Godard. Wir haben viel im Studio gedreht und wollten das auch aus dramaturgischen Gründen sichtbar machen. Es soll ja fast den Eindruck eines Reenactments von Geschichte erwecken. Die Serie spielt von Anfang an im künstlichen Raum.

STANDARD: Sie haben erzählt, dass Sie die Idee zur Serie "Kafka" schon seit zehn Jahren umtreibt. Wie und wann wurde Daniel Kehlmann Drehbuchautor der Serie?

Schalko: Daniel Kehlmann ist einer meiner engsten Freunde. Ich erzählte ihm bei einem gemeinsamen Skiurlaub von dem Projekt, und er sagte, sollte ich Hilfe brauchen, wäre er sofort dabei. Ich habe es zunächst allein probiert, aber schnell gemerkt, dass alles, was ich da schreibe, viel zu avantgardistisch ist. Dann habe ich Daniel angerufen und gesagt: "Jetzt wäre es so weit." Was Daniel Kehlmann neben ganz vielen anderen Dingen wirklich besonders gut kann, ist, wahnsinnig komplexe Dinge auf eine unterhaltsame Ebene zu führen, ohne dabei Tiefe zu verlieren. Er ist ein formvollendeter Stilist. Am Ende sind die besten Drehbücher rausgekommen, mit denen ich je drehen durfte.

KAFKA | Offizieller Trailer | 2024
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STANDARD: Wurde beim Drehen viel am Skript verändert?

Schalko: Was die Dialoge betrifft, haben wir gar nichts verändert. Wir haben die Bücher sehr genau konzipiert. Und Daniel hat Kafka fast nichts in den Mund gelegt, das er nicht irgendwo geschrieben hat. Anders vorzugehen hätten wir uns gar nicht getraut. Die visuelle Ebene entstand dann in mehreren Schritten. Da sind ja viele Menschen involviert. In der Inszenierung kommen auch immer starke Impulse von Schauspielern. Da bin ich immer sehr offen und freue mich. Deshalb beschäftigt man ja gute Schauspieler.

STANDARD: Warum ist es so schwierig, eine Biografie eines Menschen zu verfilmen?

Schalko: Eine Lebensgeschichte ist sehr fragmentarisch und gehorcht nicht den Dramaturgien eines Films. Erst im Nachhinein wird sie zu Kernthemen verdichtet. Das Leben von Kafka ist per se nicht spektakulär. Wir interessieren uns dafür, weil daraus große Literatur entstand. Das ist der Kern unserer Erzählung. Wie aus konkreten Ereignissen große Literatur entstand. Zusätzlich ist Kafka ein wichtiger Avantgarde-Schriftsteller, der es fast einfordert, einer Lebensgeschichte auch formal gerecht zu werden. Uns war klar, dass wir nicht aus seiner Perspektive erzählen können. Das wäre anmaßend und komplett falsch gewesen. Man kann Kafka nicht enträtseln, denn je näher man ihm kommt, desto geheimnisvoller wird er. Deswegen nähern wir uns ihm aus unterschiedlichen Perspektiven. Es erscheint in jeder Folge ein anderer Kafka. Als Freund ist er anders als der Sohn, der Versicherungsangestellte, der Liebhaber ...

STANDARD: War von Anfang an klar, wer wen spielt?

Schalko: Tatsächlich wussten wir jahrelang nicht, wer Kafka spielen soll. Erst nachdem wir schon zwei Bücher fertig hatten, trat Joel Basman aus mehreren Richtungen gleichzeitig in Erscheinung. Und zwar innerhalb einer Woche. Das war fast schon ein Zeichen. Neben seiner physiognomischen Ähnlichkeit hat mich auch seine schauspielerische Tiefe überzeugt. Man weiß ja, wie schwierig es ist, große Schriftsteller zu besetzen. Nichts ist schwieriger zu simulieren als Intelligenz, wie mein Freund Kehlmann immer sagt.

STANDARD: Die Besetzung ist fantasievoll: Kehlmann hat als Schnitzler einen Gastauftritt, Lars Eidinger als Rilke, Verena Altenberger als Musil. Wie fällten Sie diese Wahl?

Schalko: Wir wollten jedem der berühmten Schriftsteller und Schriftstellerinnen einen besonderen Nimbus verleihen. Schnitzler wird von Kehlmann gespielt, obwohl wahrscheinlich kaum jemand weniger literarische Gemeinsamkeiten mit Schnitzler hat als Daniel Kehlmann. Es ging uns gar nicht darum, eine möglichst getreue Darstellung zu finden. Rilke war zum Beispiel sehr klein und schreckhaft. Nicht wie Eidinger ihn spielt. Wir wollten zeigen, welche Rolle sie für Kafka spielten, und für Kafka war Rilke ein Riese. Ein Riese, der ihn bewunderte, was ihm schmeichelte. Karl Corino deutet in seiner Musil-Biografie an, dass Musil vielleicht ein liquides Geschlechtsselbstempfinden hatte – deshalb wird er von Verena Altenberger gespielt, um das zu zitieren.

Verena Altenberger als Robert Musil.
Verena Altenberger als Robert Musil.
Foto: ORF/Superfilm

STANDARD: Wie soll das Publikum Kafka sehen, nachdem es "Kafka" gesehen hat?

Schalko: Es geht auch ein bisschen um Kafka-Klischees, die nicht stimmen, zum Beispiel dass Kafka ein depressiver Einzelgänger war. Das stimmt überhaupt nicht. Er hatte viele Freunde und war im Literaturbetrieb kein Unbekannter. In der Versicherung herrschten traumhafte Arbeitsverhältnisse. Er hatte sehr große Freiheit und war umgeben von Leuten, die ihn bewunderten. "Kafka" ist keine pädagogische Serie, aber wir hoffen, dass wir ihn vor allem den jungen Leuten wieder näherbringen. Es gibt noch immer eine Art Angst vor Kafka, sobald man das Wort hört, stellt sich ein Schularbeitsgefühl ein. Dieses Gefühl wollen wir beseitigen.

STANDARD: Zehn Jahre hat Kafka Sie beschäftigt. Das ist jetzt vorbei. Droht die Leere?

Schalko: Es gibt zum Glück auch eine Welt ohne Kafka. Ich freue mich darauf, jetzt wieder etwas anderes zu machen. (Doris Priesching, 23.3.2024)