Das Pflichtenheft, das Richter Hans Barwitzius im Berufungsverfahren rund um das Zugunglück in Münchendorf befüllte, hat es in sich. Das Landeskriminalamt muss in der Neuauflage des Strafprozesses gegen den ungarischen Lokführer des Raaberbahn-Regionalzugs vor dem Landesgericht Wiener Neustadt Dokumente und Beweise beschaffen, die das Erstgericht im Jänner 2023 weder eingefordert noch gewürdigt hatte.

Mehrere Wagen des Elektrotriebzugs der Raaberbahn liegen nach der Zugentgleisung in einem Acker.
Ein junger Mann starb, zwölf Personen wurden teilweise schwer verletzt, darunter der Lokführer des Raaberbahn-Regionalzugs. Der Rex7657 war bei Münchendorf am Abend des 9. Mai 2022 entgleist. Die gerichtliche Aufarbeitung dauert noch an.
HO / Pressestelle BFK Mödling / MICHA

An das Erstgericht eingeliefert wurden die entsprechenden Verordnungen seitens der ÖBB ebenso wenig wie an den Gerichtssachverständigen, der im Brotberuf stellvertretender Leiter der Abteilung Sicherheit in der Obersten Eisenbahnbehörde im Verkehrsministerium ist, also der Aufsichtsbehörde, die derartige Regelwerke eigentlich im Blick haben müsste.

Das würde die Sachlage ändern und könnte die Staatsbahn teuer kommen. Schadenersatz wäre dann womöglich nicht von der Raaberbahn oder von deren Triebfahrzeugführer zu fordern, sondern vom Infrastrukturbetreiber ÖBB. Bei dem Unfall starb ein junger Mann, und die Raaberbahn sitzt auf Kosten in Millionenhöhe für ihren bei der Entgleisung schwerbeschädigten Zug. Hinzu kommen Schadenersatzforderungen der Verletzten und der Angehörigen des Todesopfers. Derartige Überlegungen stellen die Rechtsvertreter der Nebenintervenienten laut STANDARD-Recherchen längst an.

Im Verkehrsministerium verweist man darauf, dass derartige Änderungen im SMS-System von der Eisenbahnbehörde nicht genehmigt werden müssen. Die ÖBB-Infrastruktur handelt dabei also in Eigenverantwortung. Sie muss ihre SMS zertifizieren lassen und dabei nachweisen, dass ein Regelwerk für Störfälle existiert und die Mitarbeiter darauf eingehend geschult werden.

Eisenbahnbehörde ermittelt

Alarmiert dürfte man im Verkehrsministerium jedenfalls sein, denn ein Sprecher teilte auf Anfrage des STANDARD mit, dass die Eisenbahnbehörde an die ÖBB-Infrastruktur herantreten und Informationen und Begründungen zur entsprechenden Verfahrensanweisung einfordern werde. "Ein sicherer Bahnverkehr hat höchste Priorität", betonte der Sprecher. Zudem könne die Sicherheitsuntersuchungsstelle des Bundes im Verkehrsministerium, die den Unfall in Münchendorf noch prüft, Sicherheitsempfehlungen aussprechen."

Die geltende Eisenbahnbau- und Betriebsverordnung (§ 27) ist diesbezüglich recht klar: Ortsfeste Signale sind so zu errichten, dass die erforderliche Sichtweite von der Spitze einer Fahrt aus gewahrt ist – unabhängig von den Witterungsverhältnissen. Kurze Unterbrechungen der Sichtbarkeit, etwa durch Oberleitungsmaste, sind zulässig.

Menschliche Fehler

Hier wird es kompliziert. Denn eine teilweise Verdeckung eines Signals könnte sich verhängnisvoll auswirken, etwa wenn der Lokführer statt eines doppelten Grünlichts (für 60 km/h) nur ein einfaches grünes Hauptsignal wahrnimmt, das 160 km/h erlaubt. Derartige menschliche Fehler könnten auch bei bester Qualifikation der Triebfahrzeugführer nicht verhindert werden, schreibt das für die Bahn zuständige Verkehrs-Arbeitsinspektorat in seinen Leitlinien. Deshalb brauche es technische Einrichtungen gemäß dem Stand der Technik, wie es heißt.

Zum Vergleich: Als die Strecke ab Ebreichsdorf Richtung Wien vor dem Neubau noch eingleisig war, durfte man auch nicht schneller fahren. (Luise Ungerboeck, 29.3.2024)