In ihrem Buch "Die Torheit der Regierenden" ("The March of Folly") beschrieb die US-Historikerin Barbara Tuchman vor 40 Jahren Episoden, in denen Politiker sehenden Auges in eine Katastrophe schlittern – von der Entscheidung der Trojaner, das Holzpferd der Griechen in ihre Stadt zu nehmen, bis zum Vietnamkrieg. Wer dieser Tage die Nachrichten von der Ukraine-Front und das Verhalten der westlichen Regierungen verfolgt, muss sich fragen, ob Tuchmans Buch posthum nicht ein weiteres Kapitel verdient.

Noch können ukrainische Truppen zurückschießen, aber es fehlt ihnen ständig an Munition.
Noch können ukrainische Truppen zurückschießen, aber es fehlt ihnen ständig an Munition.
REUTERS/Stringer

Obwohl die Regierungen der USA und der meisten EU-Staaten seit mehr als zwei Jahren gebetsmühlenartig wiederholen, Wladimir Putin dürfe diesen Krieg nicht gewinnen, lassen sie dieser Tage zu, dass dieses Szenario bald Wirklichkeit werden könnte. Es fehlt der ukrainischen Armee nicht nur an Soldaten, was die westlichen Verbündeten nicht aufwiegen können, ohne selbst in den Krieg einzutreten, sondern auch an Munition und Waffen, die von den Verbündeten kommen müssen.

Diese Verbündeten sind die reichsten Staaten der Welt mit den größten finanziellen Ressourcen und hochmodernen Armeen. In einem Krieg, der immer stärker in eine Materialschlacht ausartet, könnte die Ukraine dank solcher Partner am längeren Hebel sitzen – wäre der politische Wille da, das Land wirklich gegen die russische Aggression zu unterstützen.

Hindernisse in den USA und Europa

Doch dieser Wille fehlt, allen Sonntagsreden zum Trotz. Ja, es gibt nachvollziehbare Hindernisse, etwa den Widerstand radikaler Republikaner gegen das 50-Milliarden-Dollar-Hilfspaket für die Ukraine, die wachsende Skepsis in EU-Staaten wie der Slowakei und die Schwerfälligkeit der europäischen Rüstungsindustrie, die auf einen solchen Krieg nicht vorbereitet war.

Aber seit Kriegsaufbruch sind mehr als zwei Jahre vergangen – Zeit genug, um die notwendige Munitionsproduktion hochzufahren, damit den ukrainischen Truppen an der Front nicht die Geschoße ausgehen. In den riesigen Rüstungskammern der Nato-Staaten stehen die Kampfflieger und Luftabwehrraketen bereit, mit denen die Ukraine die russischen Dauerangriffe zum Großteil abwehren könnte; sie werden mit Verweis auf die eigene Sicherheit oder aus Angst vor Putins Rache zurückgehalten. Und im US-Repräsentantenhaus existiert eine klare Mehrheit für die Ukraine-Hilfe, Sprecher Mike Johnson muss sie nur zur Abstimmung bringen.

Russland hat seine Schwäche überwunden

Die russische Armee war vor einem Jahr in der Defensive, hat aber dank des politischen Geschicks und der brutalen Entschlossenheit des Kreml die Schwäche überwunden. Das Land wurde auf Kriegswirtschaft umgestellt, befreundete Staaten wie Nordkorea für Munition angezapft und die Gesellschaft auf Sieg eingeschworen. Das fällt einer zentral regierten Diktatur leichter als einer Gruppe pluralistischer Demokratien. Aber dass sich auch solche gegen aggressive Autokraten wehren können, haben sie in der Vergangenheit bewiesen – allerdings oft sehr spät.

Auch diesmal läuft der freien Welt die Zeit davon, vor allem den Ukrainern. Bei einem weiteren Vormarsch der russischen Armee wären sie neuen humanitären Katastrophen ausgesetzt und die Sicherheit der Europäer geschwächt. Die Gefahr einer größeren militärischen Konfrontation mit Russland würde zunehmen. All das ließe sich verhindern, wenn die Ukraine alles bekommt, was sie braucht – und zwar jetzt. (Eric Frey, 10.4.2024)