Immer wieder werde ich eingeladen, über Sex in reiferen Jahren oder "im Alter" zu sprechen oder zu schreiben. Ich beginne schon traditionell mit einer bestimmten Frage: Sex in welchem Alter? Was ist Alter für Sie? Wann beginnt es?

Ich zumindest hatte mit 14 Jahren ein T-Shirt mit der Aufschrift "Trau keinem über 30!" – heute kann ich darüber nur lachen. Und ja, ich erlebe immer wieder, dass sich ganz subjektiv der Spruch "Alt ist immer 15 Jahre älter, als man selbst ist!" im Empfinden bewahrheitet. In den letzten Jahrzehnten hat sich übrigens die Selbsteinschätzung verschoben, wir fühlen uns länger jung.

Lebenserwartung und Empfinden

Wir leben in einer Zeit, in der die Lebenserwartung steigt – und wir auch wirklich lange leben wollen. Gleichzeitig wird Alter oft noch als Schwäche oder Makel empfunden. Hier darf und wird sich Wahrnehmung und Bewertung verändern, denn die zweite Lebenshälfte beginnt statistisch betrachtet mit rund 40 Jahren. Das Durchschnittsalter in Österreich beträgt laut einer Studie 43,2 Jahre. Die Mehrheit aller Österreicher:innen befindet sich also in der zweiten Lebenshälfte. Was also empfinden wir als "alt"?

Double Standard of Aging

Die Attraktivität des Älterwerdens wird immer noch bei Männern und Frauen sehr unterschiedlich wahrgenommen, Sexualität im Alter ist generell oftmals ein Tabuthema. Beate Schultz-Zehden hat sich für die Freie Uni Berlin insbesondere dem Sexualleben älterer Frauen gewidmet – ein Thema, das ganz besonders unerforscht ist, bisher. Sie sagt: "Sexualität älterer Frauen sei in unserer auf ewige Jugend eingestellten Gesellschaft ein tabuisiertes Thema. Viele Frauen erleben Altern mit einer kontinuierlichen sexuellen Entwertung, die von Sorgen um die eigene Attraktivität, abnehmender Leistungsfähigkeit, diversen Erkrankungen und Beschwerden begleitet ist – was übrigens oft einfach mit hormoneller Umstellung zu tun hat, die alle Menschen betrifft – beeinflusst vom gesellschaftlichen 'double standard of aging', was bedeutet, dass Frauen im Gegensatz zu Männern früher als unattraktiv, alt und asexuell wahrgenommen werden."

In meiner Arbeit und im Austausch mit Kolleg:innen stellt sich immer wieder heraus, dass Frauen gerade mit den Jahren oftmals freier in ihrer Sexualität werden können. Wenn Verhütungsfragen wegfallen, sich generell wieder mehr Raum und Zeit für die eigenen Bedürfnisse ergibt, öffnen sich oft neue, freiere oder intensivere Wege. Dies eröffnet gerade auch in der Sexualität andere Möglichkeiten zu Hingabe und Erregung. Immer mehr Frauen hören mit dem (bisherigen) Sex auf, weil der nie besonders erfüllend war, die einen finden neue, lustvollere, authentischere Wege, andere lassen es ganz.

ein älteres Paar liegt am Bett und lachen
Frauen können gerade mit den Jahren freier in ihrer Sexualität werden.
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Ich weiß von vielen Frauen ab und um die 50, dass sexuelle Genussfähigkeit und Begehren bewusst und freudiger weiterentwickelt wird. Gerade bei älteren Frauen geht es endlich deutlich mehr auch um die eigenen Bedürfnisse und ums Begehren, oft wieder weniger ums Gefallen. Dies gelingt übrigens vor allem bei Menschen, die sich gut miteinander über ihre sexuellen Bedürfnisse austauschen, einander verführen und spüren können.

Ich bin mittlerweile überzeugt davon, dass Menschen, denen es generell im Leben gelingt, spielerisch und neugierig zu bleiben oder wieder zu werden, denen es weniger ums "Schneller, höher, weiter, mehr!" im Leben geht, auch freudigere Sexualität leben können.

Unsere Sinne und das Körperwohlgefühl

Wir sind vom ersten bis zum letzten Atemzug sexuelle Wesen. Dies hat wohlgemerkt in jungen Jahren und oft, wenn wir sehr, sehr lange leben, nichts mit den von den meisten Menschen sexuell assoziierten tendenziell pornografischen Bildern zu tun, sondern mit Körperwohlgefühl, Sinnlichkeit, Zärtlichkeiten, mit Berührungen, Empfindungen und oft mit einem Miteinander. Schon Ungeborene, so erkennt man via Ultraschall, können ihre Körper so anspannen und entspannen, bewegen, berühren, dass sich Vulvalippen und Penisse erregen. Es sind ja auch schöne Gefühle, wenn der Körper prickelt, so ganz erwartungslos und unvoreingenommen. Selbst hochbetagte Menschen, deren andere Sinne, beispielsweise das Sehen oder Hören, nachgelassen haben, reagieren auf Berührungen. Der Körper spürt vom ersten bis zum letzten Atemzug.

Wofür steht Ihre Sexualität, was gibt sie Ihnen?

Diese Frage ist in jedem Alter und für jeden Menschen immer wieder mal wertvoll. Manchmal geht es um Nähe und Verbindung, um Zärtlichkeit, um Vertrauen und Geborgenheit, Intimität, Intensität, um Ausdruck von Liebe. Manchmal einfach nur um Lust, Begierde und Befriedigung. Manchmal geht's um Macht, Jugendlichkeit oder Bestätigung, ums "Haben wollen", manchmal um alles zusammen oder um ganz etwas anderes. Wie ist das bei Ihnen, was verbinden Sie alles mit Ihrer Sexualität?

Herausforderungen, die kommen können, aber nicht müssen

Ja, hier geht es vielleicht um Standfestigkeit und Ausdauer. Um Lubrication, um die Erhaltung der Elastizität der Vaginaschleimhaut. Selbstverständlich gibt es auch viel Sexualität abseits von "Penis in Vagina"-Sex. Gerade mit den Jahren entdecken viele Menschen ihr Begehren, ihre Bedürfnisse und auch ihre Erregungsmöglichkeiten vielfältiger, vielleicht auch zärtlicher. Wir dürfen hier immer wieder Neues erspüren und erleben, je nachdem, welche Gelenke vielleicht schmerzen. Die Orgasmusfähigkeit bleibt oft erhalten, kann sich natürlich bei jedem Menschen über die Jahre in Intensität und Häufigkeit, vielleicht auch mit den Wegen dorthin verändern. Gerade in Phasen der körperlichen Veränderung ist es wirklich wertvoll, absichtsloses Spüren und Genießen immer wieder neu zu erkunden. Eine weitere essenzielle Anregung, die für sehr viele Menschen wertvoll ist: Reden Sie mit den wichtigen Menschen in Ihrem Leben über Ihre Bedürfnisse, Ihre Veränderungen und Unsicherheiten, ihre Wünsche. So bleiben Sie lebendig miteinander verbunden.

Tipps für erotischen Genuss bis ins hohe Alter sind selbstverständlich je nach Lebenssituation und Biografie unterschiedlich. Trotzdem oder gerade deswegen ein Versuch. Körper, Geist und Psyche wollen liebevoll gefordert und gefördert werden.

Körperfitness ist essenziell wichtig, auch in der Sexualität, das weiß jeder, das brauche ich Ihnen nicht sagen. Ein fitter und gesunder Beckenboden wird von den wenigsten Menschen bewusst trainiert, dabei ist der Beckenboden wichtig für gesunde Körperhaltung und Körperspannung, für Erektionsmöglichkeit, für Orgasmen und Intensität, irgendwann mal auch für die (In-)Kontinenz. Tun Sie öfter mal wieder etwas, was Sie früher gerne gemacht haben, gehen Sie schaukeln, tanzen Sie zur Musik Ihrer Jugend, springen Sie Seil, oder gehen in einen Basketballclub, probieren Sie Purzelbäume. Für all das benötigen Sie beispielsweise Ihren Beckenboden und Ihre Sinne!

Geistige Fitness: Wann haben Sie zuletzt etwas zum ersten Mal getan? Was wollten Sie immer schon mal machen? Endlich noch eine Ausbildung, ganz für Sie persönlich oder in bisschen Italienisch lernen für den nächsten Urlaub? Als Komparse in einem Film mitspielen? Möchten Sie Ihr Wissen und Können, Ihre Lebenserfahrung nochmal wo sinnvoll einbringen? Wer sein Gehirn trainieren möchte, könnte eine neue Fremdsprache lernen oder einen Tanzkurs belegen, ein neues Musikinstrument erlernen. Für viele Menschen sind inspirierende Gespräche, ein wacher Geist der wunderbare Beginn von sinnlicher Erotik. Wie ist das bei Ihnen?

Seelische Fitness ist ebenfalls ein essenziell wichtiger Teil Ihrer sexuellen Gesundheit. Wie freundlich und zufrieden sind Sie mit sich? Wer sind Ihre guten Freunde und wissen diese das? Was weckt Ihre Neugierde, Ihre Freude am spielerischen Entdecken? Wovon lassen Sie sich berühren? In welchem Umfeld, in welchen Netzwerken sind Sie selbstverständlich eingebunden und was können Sie ganz ohne andere für sich tun? Ach, und gibt's etwas, das Sie endlich mal sein lassen wollen?

Zu guter Letzt die Frage: Hört der Sex mit "dem Alter" auf?

Nein. Allerdings verändert er sich oft. Manchmal verändert sie die Quantität, oft auch die Bedürfnisse, vielleicht auch die Haltung zur Sexualität. Mein bisher ältester Klient, der seine Sexualität verbessern wollte, war zum Zeitpunkt unserer gemeinsamen Arbeit weit über 80 Jahre alt. Ein Mann, der verstehen wollte, wie er mit seiner Frau, die Mitte/Ende 60 war, erfüllendere Sexualität leben konnte. Geredet hatten die beiden miteinander bis dahin nie "darüber", auch nicht über ihre Wünsche. Es war eine sehr berührende und befreiende Arbeit.

Vor kurzem durfte ich mit einer lebenslustigen Frau plaudern, die schon im Pflegeheim lebt und sich dort heftig verliebt hat, beide sind über 80, sie turteln und küssen wie Teenager. "Selbstverständlich geht's bei uns auch um Sex!", kichert sie verschmitzt. (Nicole Siller, 19.4.2024)