Manche, hier vor allem Männer, sagen: "Ja klar, ein Orgasmus ist das Ziel." Andere, hier vor allem Frauen, finden es nicht so wichtig oder hatten noch nicht das Vergnügen. Wieder andere, auch hier vor allem Frauen, sagen: "Einer? Da gehen doch multiple Orgasmen?!" Wieder andere Menschen meinen, eigentlich sei der Höhepunkt nicht wichtig oder nicht sooo wichtig, sondern ganz andere Dinge – die Nähe, die Intensität der Gefühle. Es gibt also keine eindeutige Antwort auf die Frage, ob ein Orgasmus guten Sex ausmacht. Für manche ist es ein Ja oder ein Nein. Für andere ein Vielleicht. Wie ist das bei Ihnen? Und weiß die Person, mit der Sie Sex haben, wie Sie denken, wie Sie empfinden?

Bett, Kuscheln;
Sex ist mehr als Orgasmus. Um daher die unterschiedliche Bedürfnisse zu befriedigen, braucht es Kommunikation.
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Der Orgasmus als Ziel

Für viele Menschen ist Sexualität klar mit Höhepunkten verbunden, so quasi: Ich habe Sex, um einen – oder auch mehrere – Orgasmen zu erleben. Für viele ist Sexualität ein relativ zielgerichtetes, manchmal auch sehr flottes Tun zum Orgasmus. Viele, vor allem jüngere Menschen, leiden in der Sexualität unter hohem Leistungsdruck, Männer wie Frauen: Da geht es oft mehr um Höhepunkte und Techniken, um Stellungen und Mut, mehr darum, gut zu sein beim Sex, als wohltuende, sinnliche Sexualität auf allen möglichen Ebenen zu erleben. Manche kommen dann später in die Beratung, um herauszufinden, wer sie abseits dieses "Funktionierens" eigentlich wirklich sind.

Der berühmt-berüchtigte Orgasmus-Gap

Leider muss ich an dieser Stelle sagen, es gibt ihn ganz eindeutig immer noch, den Orgasmus-Gap. Ich erlebe es sehr oft in meiner Arbeit, was Umfragen bestätigen. Frauen benötigen oft andere Stimulation für erfüllende und orgiastische Sexualität als Männer, aber das wird oft noch nicht gelebt beziehungsweise erlebt. Einerseits, weil wir alle immer noch eher Bilder im Kopf haben – oder auch serviert bekommen–, die eben mehr auf männliche Bedürfnisse zugeschnitten sind. Andererseits, weil viele Frauen nicht so ganz wissen, was sie eigentlich wirklich wollen oder auch in der Sexualität mit einem Mann noch nicht ausreichend Gelegenheit hatten, genau das herauszufinden.

Manchen Frauen ergeht es so, weil sie es nicht zeigen können, was sie bräuchten, aus welchen Gründen auch immer. Und natürlich auch, weil es Männer gibt, die nicht spüren oder wissen, was ihre Frau möchte, oder die einfach nur darauf schauen, was sie selbst brauchen. Es ist also ein bisschen eine Henne-Ei-Problematik. Miteinander könnte es einfach besser gelingen.

Die "richtige" Stimulation

Frauen kommen nicht schwieriger, sondern oft anders zu ihren Höhepunkten – und auch nicht so sichtbar. Wobei auch bei Männern Orgasmen und Ejakulationen nicht zwingend zusammenhängen, aber das ist eine andere Geschichte. Verschiedene Studien sprechen von nur circa zwei Drittel, manche sogar von nur einem Viertel aller Frauen, die beim Sex mit einem Mann zu Höhepunkten kommen, während es für weit über 90 Prozent aller Männer "selbstverständlich" ist, Orgasmen beim Sex mit Frauen zu erleben.

Was ist also alles guter, wohltuender, erregender Sex, wäre hier die Frage. Spannend finde ich, dass Frauen, die sich selbst befriedigen oder Sexualität mit Frauen haben, deutlich häufiger zu Höhepunkten kommen. Die Frage ist hier also eindeutig das Wie und nicht das Ob – vor allem im Miteinander und in der Kommunikation.

Denn so optimal eine Vagina für einen Penis gebaut ist, um ihn zum Orgasmus zu stimulieren (irgendwie evolutionär logisch, denn der Samen muss da rein, sonst vermehren wir uns nicht), so wenig selbstverständlich ist es, lustvoll erregend für die Vagina hauptsächlich durch Penetration zu Höhepunkten zu kommen (ebenfalls logisch, denn in der Vagina gibt es wenige Nervenenden, sonst könnte Frau kaum Geburten ertragen). Deshalb gibt es ja bei Frauen dieses wunderbare und einzige Organ, das ausschließlich der Lust dient – die Klitoris. Aber zurück zur Frage, ob ein Orgasmus guten Sex ausmacht.

Sexualität auf vielen Ebenen

Sexualität mit jemand anderem ist eine Form der Kommunikation, der Interaktion. Wie schön wäre es, wir könnten hier gut miteinander kommunizieren, auf welcher Ebene auch immer, ob körperlich, geistig, emotional, verbal –mit allen Sinnen. Denn fehlender Austausch, auch und gerade in der Sexualität, kann sehr trennend sein. Kann dieser überwunden werden und es wird ein gegenseitiges Annähern möglich, vielleicht sogar neugieriger und spielerischer, ist der Weg zu Genuss für beide naheliegend.

Wofür steht Sexualität? Das frage ich oft und bekomme sehr viele unterschiedliche Antworten – wie wunderbar. Da gibt es Menschen, die einander nur dann berühren, wenn es klar um Sex gehen soll, die dann sagen: "So hole ich mir meine Berührungseinheiten, anders kann ich nicht." Für andere Menschen ist es unglaublich wichtig, bevor es zu körperlicher Interaktion kommt, miteinander zu lachen, ein gutes persönliches Gespräch zu führen, in entspannte Zweisamkeit zu kommen. Für manche ist Sex Entspannung, andere brauchen Entspannung für Sex. Manche sind so gut wie nie mit ihrer vollen Aufmerksamkeit beim anderen, aber gerade beim Sex gelingt das gut.

Erst dieser Tage erzählte mir ein Mann, durch Berührungen, Umarmungen und auch Sexualität fühle er sich erst richtig angenommen, für ihn sind das die Momente von Vertrauen und Hingabe, ja auch der Bestätigung. Wieder andere sagen, Anbahnung zur Sexualität beginnt für sie da, wo ein körperlicher sexueller Austausch gerade aufhört. Sie genießen kleine Gesten zwischendurch, ob liebevolle oder verführerische Blicke, aufmerksame Worte, kleine Nachrichten, beiläufige Berührungen, liebevolle Umarmungen. Viele Menschen, mit denen ich zu tun hatte und habe, sagen, sie verbinden sich miteinander immer wieder neu durch gemeinsam erlebte Erotik, vertrauensvolles Fallenlassen. Wenn sich beide gut aufeinander einlassen können, entsteht diese wunderbare Intensität, Vertrautheit und Nähe, dann spüren sie die Liebe besonders.

Orgasmen als Möglichkeit

Sehr viele Menschen erleben irgendwann, dass es stressen kann, wenn sich Sexualität hauptsächlich darauf ausrichtet, "zu kommen". Ob der Druck vom Partner beziehungsweise der Partnerin kommt oder ob er selbstgemacht ist, sei dahingestellt. Ein "Wundermittel" in der sexuellen Begegnung kann es sein, dieses "Ziel" loszulassen. Immer wieder hilft es unglaublich, wenn der gestresste Mensch sich währenddessen sagt, oder es sogar ausspricht: "Ich weiß nicht, ob ich jetzt kommen kann."

So kann es im Übrigen ganz einfach gelingen, mit allen Sinnen Momente, Berührungen, Zärtlichkeiten zu genießen und so ganz im Moment zu sein, ohne fixe Idee. Manchmal kommt er dann von ganz alleine, der Orgasmus, ein anderes Mal eben nicht.

Ein Orgasmus für gute Sexualität?

Macht also ein Orgasmus den Hauptteil für guten Sex aus? Wie würden Sie antworten? Im Grunde ist ein Orgasmus ein Reflex, der im Körper durch gewisse Stimulation ausgelöst wird. Dieser manchmal unglaublich erregende, berauschende und manchmal schlichtere Reflex führt zu mehr oder weniger rasch einsetzender Entspannung. Und ja, Entspannung wünschen sich viele Menschen in jeder Hinsicht, körperlich, geistig, insgesamt.

Ein Orgasmus kann tiefe Verbundenheit, manchmal befreiende Tränen der Entspannung auslösen, natürlich auch intensive Liebesgefühle, das große Bedürfnis nach Zärtlichkeit, schlagartige Müdigkeit – oder auch, je nach Situation, Unwohlsein und Fluchtgedanken, wenn die Situation insgesamt nicht so passend war und mehr das Verlangen rasche Triebbefriedigung wollte als der ganze Mensch.

Für viele Menschen sind Wege zur Sexualität, wie Anbahnung, Verführung, Flirt, Erotik, die Vorfreude, das Erobern und die Fantasie der bevorstehenden lustvollen Begegnung oft erfüllender als ein Höhepunkt selbst. Für andere ist ein Orgasmus das Allerwichtigste. So soll es sein. Solange wir anerkennen, dass wir nicht alle gleich ticken und wir vielleicht auch verschiedene Wege erleben können und wollen, die uns in der Sexualität erfüllen. (Nicoler Siller, 2.2.2024)