Sexualität "funktioniert" oftmals viel bunter und vielfältiger, als nach wie vor in vielen Köpfen, Erwartungen und Gewohnheiten erlebt und gedacht wird. Heute, am Weltfrauentag, den wir leider immer noch brauchen, möchte ich vor allem Frauen und Menschen, die Sexualität mit Frauen leben, einladen sich selbst und einander neu zu entdecken, abseits von üblichen Bildern.

Erwartungen, Bewertungen, Regeln

Immer noch gibt's viele einschränkende Mythen beispielsweise den vom "Jungfernhäutchen", der erzählen will, überprüfen zu können, ob Frau schon mal Geschlechtsverkehr hatte. Mythen von anständigen und unanständigen Frauen, zu tiefen Ausschnitten, von "Huren", "Flittchen" oder "braven Frauen", die schon lange schmerzhaft begleiten. Machtvolle Worte, die Frauen unfrei machen, den Selbstwert untergraben und alles andere als fördernd sind, insgesamt und schon gar nicht in der Sexualität. Es gibt sie noch, diese unausgesprochenen Erwartungen, dass Frauen beispielsweise für Sexiness, Anstand, Verführung und Verhütung verantwortlich sind. Von Kindern, sozialen und familiären Verpflichtungen und dem Haushalt ganz zu schweigen. Das alles fördert keine lustvolle Sexualität miteinander.

Was alles ist weibliche Sexualität?

Viele Menschen haben bei dieser Frage viel Romantik, Kerzenschein, Zärtlichkeit und Sanftheit im Kopf. Ich möchte herzlich einladen, Frauen nicht auf diese "schmale" Variante der Sexualität zu beschränken. In den letzten Jahren hat sich in Bezug auf bewusste Gestaltung von Sexualität sehr viel getan, gerade auch bei Frauen. Wir lösen uns sehr langsam aber sicher aus einschränkenden Bewertungen. Immer mehr Frauen spüren und zeigen, was sie sich unter guter Sexualität vorstellen und was alles dazugehört, was sie leben oder zumindest mal probieren möchten. Es braucht dazu natürlich Mut und vor allem auch einen vertrauensvollen, aufgeschlossenen Partner, der sich einlässt.

Zwei Frauen, die sich innig umarmen
Getty Images

Manchmal ist es natürlich in einer langjährigen Beziehung nicht einfach, diese Wege der Erkundung freudig und neugierig zu gehen. Stellt es nicht alles Bisherige infrage? Nein, klar nicht, es kann ja gut gewesen sein und jetzt ist Frau neugierig auf anderes. Mann vielleicht auch? Dennoch, Veränderungen verunsichern oft.
Auch viele Single-Frauen erzählen, es sei oft herausfordernd, jemanden zu finden, der sich wirklich einlässt. Sowohl auf Beziehungswünsche wie auch auf Sexualität im Sinne von viel mehr als "nur wild schmusen und Geschlechtsverkehr".

Körperbewusstsein und Körperzufriedenheit

Gleichzeitig steht so manche Frau vor der Herausforderung, nicht in Leistungsschemata zu rutschen. Manche entwickeln selbst so hohe Erwartungen an sich, beispielsweise den "perfekten Körper", der dann auch beim Sex quasi "zu allem" bereit ist – so unter dem Motto, ich emanzipiere mich, also mache ich alles Mögliche mit, weil wir frei und gleichwertig sein wollen –, auch wenn's nicht wohltuend ist. Achtung, Falle!

Frauenkörper können in jedem Alter schön, attraktiv und begehrenswert sein, bei Männern ist es ja auch so, oder? Auch wenn Gesellschaft, Mode und Medien bestimmte Standards suggerieren, nämlich dass Frau möglichst ein Leben lang einen schlanken, straffen wohlproportionierten Körper einer sehr jungen Frau behalten soll, während wir Kinder bekommen und zeitgleich ein langes Leben anstreben. Befreien wir uns bitte aus diesen unrealistischen unglaublich leidvollen Bildern, die nur der Wirtschaft dienen, aber keinesfalls einem genussvollen Leben und Lieben!

Wenn wir ein paar Jahrzehnte zurückschauen, hat sich das Ideal "der schönen Frau" markant verändert, von androgyn wie Twiggy oder Kate Moss über kurvig von Sophia Loren bis Kim Kardashian. Wenn wir also lange genug warten, ist irgendwann auch der eigene Körper "ideal schön". Ein echtes Rolemodell ist beispielsweise Emma Thompson, die sich im Film "Meine Stunden mit Leo" (2022) mit über 60 Jahren splitterfasernackt vor einen Spiegel stellt und erstmals selbst erkennt, wie schön ihr reifer Körper ist.

Die Falle der eigenen Erwartungen

Vielen Frauen ist es noch fremd, wirklich genussvoll und frei ihr Liebesleben nach ihren eigenen Bedürfnissen zu entwickeln, zu gestalten, überhaupt kennenzulernen. Bisher, jetzt und im Laufe ihres Lebens fehlt's da oft an Gelegenheit, Entspanntheit, Raum und Muße. Wenn wir eigene Grenzen laufend überschreiten, entfernt dies ziemlich sicher von den eigenen vielschichtigen und oft variierenden Bedürfnissen. Wenn wir etwas müssen, können wir keine Lust mehr darauf haben.

Zu viele Männer, die Sexualität mit Frauen leben, bewegen sich wenig aus gewohnten Handlungen und Abläufen raus – oder rutschen auch hier in ein Leistungsprinzip, so unter dem Motto "Lass uns mal alles Mögliche und Unmögliche 'durchturnen'", das kann auch rasch zu Sport und Ehrgeiz ausarten. Wem's Spaß macht, gut. Erotisch und verführerisch ist dies oft nicht für alle Beteiligten.

Worum geht's für Sie beim Sex?

Aus meiner Erfahrung und Auffassung von guter Sexualität geht's oftmals mehr um die innere Haltung, ums Einlassen und miteinander in liebe- beziehungsweise lustvolle Resonanz gehen, zu erspüren, was gerade da ist. Welche Dynamik will sich entwickeln? Wer führt, wer lässt sich führen? Für viele Menschen wird durch Sexualität auch Liebe ausgedrückt, Nähe, Verbundenheit, Intimität, Vertrauen, Zärtlichkeit, es ist die Zeit der Berührung und Zweisamkeit. Klar, auch Lust, Begehren, Geilheit, Erregung und Höhepunkte wollen ihren Raum und dennoch, insgesamt geht's öfter um ganz anderes als um bestimmte Stellungen, Praktiken oder Fetische, Kinks. Wie ist das bei Ihnen?

Bedürfnisse und Sehnsüchte

Sehr viele Frauen, mit denen ich arbeite, waren in der Sexualität von Beginn an durch allerorts kommunizierte Bilder, entsprechende Sprüche und Aussagen, sowie (oft auch eigenen!) Erwartungen konditioniert (sorry für das harte Wort!), gut im Bett zu sein. Da ging es weniger darum, dass Sexualität wohltuend erlebt wird, es war mehr oder weniger klar, guter Sex endet, wenn "er" gekommen ist, also hat sich vieles darauf konzentriert. Zu einseitige Sexualität macht für viele Frauen dauerhaft wenig Lust auf mehr. Ich erlebe oft Frauen, die unbedingt wohltuende Sexualität leben wollen, aber nicht mehr von dem, was sie bisher erlebt haben. Was darf es also sein? Auch wenn ich mich hier tendenziell auf heterosexuelle Menschen beziehe, schließe ich lesbische Frauen keinesfalls aus.

Frauen können – wieder ein Mythos – übrigens nicht schwieriger zu Höhepunkten kommen, sondern einfach anders, vielfältiger und oft gerade eben nicht durch hauptsächlich Penetration. Immer noch wissen das viele Menschen nicht, nehmen sich weder Zeit noch Raum für "weibliche" Bedürfnisse, "weibliche" Lust. Vielen Männern ist es noch nicht selbstverständlich, Frau zu erkunden, deswegen auch der Orgasmus-Gap, es gäbe also noch viel zu entdecken, gerade auch im Miteinander, in bestehenden Beziehungen.

Weibliche Sexualität ist oft vielschichtiger ...

... weniger zielorientiert, braucht manchmal mehr Zeit, vielleicht passende Worte, Blicke, Berührungen, Küsse ... vielleicht andere Sinnesreize als bisher. Vielleicht braucht das "männliche" Sexualität auch. Vielleicht gibt es diese stereotypen, binären Bilder gar nicht, wenn wir gemeinsam genießen, sodass es für alle wohltuend ist?

Viele Männer, mit denen ich zu tun habe, sind im ersten Augenblick verunsichert, wenn Frau zeigt, was sie möchte. Gleichzeitig sehnen sich viele nach freudiger, leidenschaftlicher Sexualität miteinander. Nach anfänglichen Irritationen ist es meist wirklich wohltuend für alle Beteiligten, aus gewohnten Routinen auszubrechen. Was wäre für Sie jetzt ein guter erster Schritt? Ein gutes Gespräch über Ihre eigenen Bedürfnisse, auch in der Sexualität? Viel Freude beim Erkunden. (Nicole Siller, 8.3.2024)