Pressekonferenz
Intendant Milo Rau will bei den Wiener Festwochen die "Freie Republik Wien" ausrufen und "Wiener Prozesse" führen. Die Besetzung des "Rats der Republik" hat eine Antisemitismusdebatte entfacht.
Foto: APA / Eva Manhart

"Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz. Denn wenn wir die uneingeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen", schrieb der in Wien geborene und vor den Nationalsozialisten geflohene Philosoph Sir Karl Popper unmittelbar nach dem Ende der Shoah in Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Gerade heute, in diesen krisen- und kriegsintensiven Zeiten, mit einer Zunahme extremistischer Bedrohungen, sollten wir uns öfter das Popper’sche Toleranz-Paradoxon in Erinnerung rufen – um eben die Toleranz zu verteidigen.

Mit dem Politiker Yanis Varoufakis, der Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux und dem Soziologen Jean Ziegler (und anderen?) würden die Wiener Festwochen Personen eine Plattform bieten, die wiederholt Boykotte und Sanktionen gegen israelische Künstlerinnen und Künstler, gegen israelische Wissenschafterinnen und Wissenschafter sowie viele andere Menschen einzig und allein wegen ihrer Staatsbürgerschaft forderten und fordern. Es sind prominente BDS-Unterstützer ("Boycott, Divestment and Sanctions"), die einen nachweislich gegen Israel als "Jude unter den Staaten" gerichteten Antisemitismus verbreiten. Dabei ist BDS sowohl antisemitisch als auch gegen die Meinungs- und Kunstfreiheit gerichtet. Mit Kritik an einer etwaigen Regierungspolitik hat das nichts zu tun. Die ist nicht zuletzt in Israel lautstark und versiert.

"Rote Linie"

Der Wiener Gemeinderat hat 2020 einstimmig eine Resolution beschlossen, der zufolge die BDS-Bewegung und Gruppen, die diese unterstützen, in keiner Weise von der Stadt Wien gefördert werden dürfen. Auch der Nationalrat, das Europäische Parlament und andere Parlamente in ganz Europa haben BDS als eindeutig antisemitisch klassifiziert und verurteilt. Nun gab der Intendant der Wiener Festwochen, Milo Rau, im STANDARD-Interview an, dass Ernaux kein Mitglied von BDS sei (siehe "'Begriff Antisemitismus wird instrumentalisiert'"). Wie er zwischen BDS-Mitgliedern und -Unterstützern unterscheidet, ist unklar. Wer führt Mitgliederverzeichnisse, wer hat Einblick in ebendiese? Was unterscheidet einen Unterstützer von einem Mitglied, so es solche Mitgliedschaften überhaupt gibt?

Rau verweist darauf, dass es "rote Linien" für ihn gebe – Antisemitismus gehöre in allererster Instanz dazu. Ernaux ist bekennende Unterstützerin von BDS, BDS ist eindeutig antisemitisch. Was erschließt sich mir in diesem Zusammenhang nun nicht? Ist die rote Linie nicht eindeutig überschritten? Neben der BDS-Unterstützung fordert sie aber auch die Bestreikung deutscher Kultureinrichtungen, explizit und ausschließlich wegen der ihrer Meinung nach Israel-freundlichen Haltung Deutschlands. Sie fordert Intoleranz.

"Hier wird auf den Spuren der Documenta 15 und der Berlinale gewandelt. Das hat Wien nicht verdient."

Der "Rat der Republik" soll eine "Verfassung" der "Freien Republik Wien" erarbeiten. Darüber hinaus soll die "Wiener Erklärung" auch technische Fragen wie die Budgetverteilung und die Zugänglichkeit behandeln und als Basis für die Festwochen-Programmierung der kommenden Jahre dienen. Was lässt daran zweifeln, dass Ernaux, Varoufakis, Ziegler (und andere) ihre ausgrenzenden Positionen gegenüber israelischen Künstlerinnen und Künstlern hier einfließen lassen? Damit besteht die Gefahr, dass die Wiener Festwochen über Jahre hinweg nachhaltig durch antisemitisches Gedankengut beeinflusst werden. Hier wird auf den Spuren der Documenta 15 und der Berlinale gewandelt. Das hat Wien nicht verdient.

Falsche Einladungspolitik

Die Wiener Festwochen könnten mit dieser Einladungspolitik dazu beitragen, jüdisches Leben in Österreichs Hauptstadt unsicherer zu machen. Wer Personen, die antisemitische Vergewaltiger und Massenmörder als "Guerillas" verharmlost, wie es Varoufakis tut, hat kein Interesse an jüdischem Leben hier und heute. Die antisemitischen Vorfälle in Österreich haben sich seit dem 7. Oktober mehr als verfünffacht. Immer mehr Jüdinnen und Juden haben Angst, sich in der Öffentlichkeit als jüdisch zu erkennen zu geben. Manche fühlen sich in ihrer Heimatstadt nicht mehr sicher. Sobald die jüdische Gemeinde auf diese Fakten hinweist, zeigt sich jeder betroffen und betont, dass die gesamte Gesellschaft dagegen ankämpfen muss. Und nun? Nun sollen Menschen, die durch ihre Positionen den Antisemitismus weiter befeuern, bei einem der größten Kulturfestivals des Landes – das im Übrigen von der öffentlichen Hand subventioniert wird – eine politische Plattform finden?

Wollen die Wiener Festwochen und damit auch die Wiener Kulturpolitik tatsächlich mitverantwortlich dafür sein, wenn es wieder zu Emigration jüdischer Wienerinnen und Wiener kommt? Ich halte die Einladungspolitik für gefährlich und falsch, aber nicht unumkehrbar. "Nie wieder" ist jetzt. (Oskar Deutsch, 27.3.2024)