Der Diktator auf der Videowand: eine Straßenszene in Moskau, während Wladimir Putin am Donnerstag seine jährliche Rede an die Nation hält.
Foto: AP/Dmitry Serebryakov

Wladimir Putin ist der Mensch, der mein Arbeitsleben vielleicht am tiefsten beeinflusst hat. Seine Regierung wies mich 2013 aus Russland aus, dem Sehnsuchtsland meiner Kindheit. 1989, da war ich zwölf, lernte ich Russisch, im weltgeschichtlich vielleicht absurdesten Moment. Ganz Osteuropa schlitterte in die Freiheit, ich aber klingelte in Genf an der Tür des Botschafters der Sowjetunion, um ihn zu bitten, ein paar Sätze in meine Ausgaben von Majakowski und Tolstoi zu schreiben. Die Naivität des Jünglings muss ihn gerührt haben – noch heute habe ich die signierten Bücher.

Richtig los mit meiner Arbeit in Russland ging es aber erst 20 Jahre später, 2010. Damals wurde ich von der (vor ein paar Jahren mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten) Menschenrechtsorganisation Memorial eingeladen, ein Projekt zum Stalinismus zu machen. Ich entschied mich, die Moskauer Prozesse zu reinszenieren, eine Reihe von Schauprozessen, mit denen Stalin in den 1930ern seine Gegner ausgeschaltet hatte. Über die Jahre wurde daraus ein Projekt gemeinsam mit dissidenten Künstlern, unter anderem der Punkband Pussy Riot: zeitgenössische Moskauer Prozesse, eine Wiederaufnahme der damals laufenden Verfahren gegen die intellektuelle und künstlerische Dissidenz. Mit echten Richterinnen, Anwälten, Expertinnen – und offenem Ausgang.

"Surrealer Wachtraum"

Fast drei Tage lang lief alles gut, aber kurz vor Ende stürmte der Inlandsgeheimdienst die Veranstaltung. Ein paar Tage später musste ich Russland verlassen. Pussy Riot, Kirill Serebrennikow, Alexej Nawalny und einige andere, die an den Moskauer Prozessen teilgenommen hatten oder mich sonst kannten, unterschrieben einen offenen Brief. Auch Maxim Schewtschenko, einer der berühmtesten orthodoxen Theologen und Moderatoren des Staatssenders – einer unserer Hauptexperten der Anklage gegen die "westliche Kunst" –, unterschrieb. All das nützte natürlich nichts. Ich bekam nie wieder ein Visum für Russland. Als ich 2018 in St. Petersburg den Europäischen Theaterpreis bekommen sollte und um eine Einreiseerlaubnis bat, konnte der russische Botschafter sich das Lachen nicht verkneifen. Er war genauso verwundert über meine Naivität wie 30 Jahre zuvor sein sowjetischer Kollege: "Milo, vielleicht googelst du dich einfach mal."

Denn das ist das Selbstverständnis von Putins Macht: Du bist gegen oder für sie. Wer das nicht verstehen will, wird ausgelacht, ausgewiesen, weggesperrt, ermordet. Schaut man sich die Moskauer Prozesse heute an, wirkt der Film trotz des Angriffs des Inlandsgeheimdiensts und einer Kosakenattacke wie ein Blick in ein helleres, aufgeklärteres Zeitalter. Katja von Pussy Riot spricht mit orthodoxen Aktivisten, rechtsradikale Hardliner sitzen neben dissidenten Künstlern und blättern in Kunstbänden. "Ein surrealer Wachtraum", so nannte es der Leiter des Moskauer Sacharow-Zentrums, in dem die Prozesse stattfanden.

"Das ist das Selbstverständnis von Putins Macht: Du bist gegen oder für sie."

Das war 2013. Ein knappes Jahr später rutschte die russische Zivilisation mit der Annexion der Krim in die Dunkelheit. Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vor zwei Jahren ist zwischen Regierung und Opposition kein Dialog mehr möglich – die Fake-Opposition, die es in Russland wie in jedem Scheinkonstitutionalismus gibt, zählt nicht. Memorial wurde als "terroristische Organisation" verboten, ihr Leiter, mein guter Freund Oleg Orlow, vor ein paar Tagen wegen "Diskreditierung der russischen Streitkräfte" zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt. Das Sacharow-Zentrum ist – muss man es erwähnen – längst geschlossen und aufgelöst. Die Künstlerinnen der Moskauer Prozesse sind in den Westen geflohen. Serebrennikow ist exiliert, Nawalny wurde im Gefängnis ermordet.

Warum erzähle ich das alles? Weil wir im Mai in Wien die "Freie Republik Wien" ausrufen werden, mit Hymne, Flagge, Verfassung. Victoria Lomasko, die Gerichtszeichnerin der Moskauer Prozesse, haben wir zur Zeichnerin der "Freien Republik" ernannt. Es wird eine Republik der Künste sein, inklusive eines Rats mit hundert Mitgliedern, von Elfriede Jelinek über Carola Rackete bis Angela Davis, eines Hauses der Republik mit offenen Büros und mit 46 künstlerischen und aktivistischen Projekten von Holzinger bis Serebrennikow, einer Ausstellung, einer eigenen Akademie – und natürlich einer revolutionären Gerichtsshow: den Wiener Prozessen.

Die Wiener Prozesse

In diesen werden wir genau das tun, was wir auch in Moskau gemacht haben vor zehn Jahren: Menschen zusammenbringen, die einander im Grund nur in einem surrealen Wachtraum zuhören würden. Denn was sonst wäre die Aufgabe der Kunst? In einem Prozess werden die Richterinnen und Anwältinnen der "Freien Republik" die Rolle der Republik in der Covid-Zeit noch einmal aufrollen, in einem anderen die Verfassungskonformität der FPÖ prüfen, im dritten schließlich die aktivistische Kunst – und damit mich selbst – vor die Schranken des Kunstgerichts bitten. Frei nach Allan Kaprow: "Die Grenze zwischen Kunst und Leben sollte so fließend wie möglich gehalten werden."

Wenig erstaunlich: Von den Klimakleberinnen bis zu den FPÖ-Abgeordneten, von den Whistleblowern bis zu den Covid-Maßnahmen-Kritikerinnen (oder eben -Unterstützerinnen) waren alle, denen wir von den Prozessen erzählten, von der Idee begeistert. Und zwar deshalb, weil das Format offen ist und der Ausgang damit auch. Die Jury wird aus Menschen aller politischen Richtungen und Hintergründe bestehen. Denn alle fühlen, dass die Zivilgesellschaft den sich schließenden politischen Diskursräumen etwas entgegensetzen muss: einen glückhaften, funkelnden, nervösen Raum, einen Raum der Wahrheit und der Großzügigkeit mitten im kriegerischen Zeitgeist.

Utopie des Miteinanders

So wird die "Freie Republik Wien" während fünf Wochen ein Ort des Zuhörens genauso wie des radikalen Widerspruchs, der Freundschaft genauso wie des Streits sein. Ein Ort der Schönheit und des Skandals. Womit ich wieder zu Putin komme. Denn als Nawalny vor zwei Wochen ermordet wurde, begannen im Netz einige der bösartigsten Interviews des russischen Diktators zu kursieren. In einem Interview fragt der Talkmaster unvermittelt: "Ist Putin glücklich?" Putin denkt nach, quasselt irgendwas über den "Dienst am russischen Volk". Schließlich aber verneint er, mit glanzlosem, leerem Blick. Putin ist nicht glücklich.

Als ich diese Videos sah, packte mich eine Art Mitleid. Die Macht kennt keinen Konjunktiv, sie muss immer recht haben, da sie sonst verschwindet. Die Macht ist der Ort des Unglücks, des Bescheidwissens, des Hohns. Das letzte Interview mit Alexej Nawalny, bevor er nach Russland zurückkehrte, zeigt dagegen einen Mann von geradezu Parzival'scher Naivität. Als man ihn fragt, ob es nicht töricht sei, heimzukehren, funkeln seine Augen in existenziellem Unverständnis. Für einen Moment sieht man, dass dieser Mensch sich auch nach 30 Jahren Opposition die Bösartigkeit der Macht nicht vorstellen kann, nicht vorstellen will. Dass er sich die Utopie eines demokratischen Miteinanders nicht nehmen lässt. Und dafür bereit ist, mit offenem Blick in den Tod zu gehen. (Milo Rau, 1.3.2024)