Pressekonferenz, Selenskyi (links), von der Leyen (Mitte), De Croo (rechts)
Westliche Staatschefs waren am Jahrestag der Invasion in Kiew bei Präsident Wolodymyr Selenskyj, allen voran EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, mit dem belgischen Premier Alexander De Croo.
Foto: APA / AFP / Genya Savilov

Europa befindet sich in einer höchst ungemütlichen, ja gefährlichen Lage. In der Ukraine wütet der Angriffskrieg, den Russlands Präsident Wladimir Putin vor zwei Jahren begonnen hatte, um die Ukraine als Staat von der Landkarte zu tilgen und ihr Territorium gewaltsam zu annektieren. Und auf der anderen Seite gefällt sich Donald Trump, der wahrscheinliche Präsidentschaftskandidat der Republikanischen Partei in den USA bei den anstehenden Wahlen im November, mit wüsten Drohungen gegen die langjährigen europäischen Partner der Vereinigten Staaten, dass er all jene, die ihre Nato-Verpflichtungen von mindestens zwei Prozent des BIP in ihren Verteidigungsbudgets nicht erfüllt hätten, im Falle eines russischen Angriffs nicht verteidigen würde, ja mehr noch, dass er Putin sogar dazu auffordern würde, mit diesen Ländern nach russischem Gusto zu verfahren. So oder ähnlich könnte also das Ende der Nato und der US-amerikanischen Sicherheitsgarantie für Europa aussehen. Und dann stünde Europa völlig allein da, eingeklemmt zwischen einem imperialen Nachbarn Russland und einem isolationistischen Amerika auf der anderen Seite des Atlantiks.

"Blicken wir der Realität ins Auge, Europa ist wirtschaftlich reich, technologisch und in der Wissenschaft entwickelt und sozial ein guter Platz zum Leben, mit starken Demokratien und Rechtsstaaten, aber Europa ist keine Macht!"

Was helfen würde, wäre die europäische Einheit mit gemeinsamer Außenpolitik, Armee, eigenem europäischem Nuklearschirm und allem, was zur Souveränität einer Macht im 21. Jahrhundert gehört, aber Europa ist zu diesem Sprung in die Realität nicht bereit. Blicken wir der Realität ins Auge, Europa ist wirtschaftlich reich, technologisch und in der Wissenschaft entwickelt und sozial ein guter Platz zum Leben, mit starken Demokratien und Rechtsstaaten, aber Europa ist keine Macht! Dazu muss es unter dem Druck der Ereignisse im Geschwindschritt erst werden. Die Gefahr, die von Putin ausgeht, reicht dafür offensichtlich nicht aus. Wie sieht es jedoch mit der kumulierten doppelten Bedrohung durch Trump und Putin aus?

Man darf, erfahrungsgesättigt, als Realist durchaus pessimistisch sein. Europa hat sich auf die Rückkehr eines imperialistischen Raubkriegs einer Großmacht gegenüber einem kleineren, friedlichen Nachbarn nicht wirklich eingestellt. Die Mehrheit unter Einschluss der politischen Klassen in den europäischen Staaten, jenseits der Osteuropäer und Skandinavier, lebt noch immer in der Mentalität der verschwundenen Friedenszeit nach 1989.

"Putins Appetit wird mit der Ukraine nicht gestillt sein."

Tatsächlich mangelt es an Munition, Luftverteidigung, schwerem Gerät, an nahezu allem, was die Ukraine zu ihrer wirksamen Verteidigung braucht. Und nunmehr droht der Ausfall der Hilfe aus den USA, dem wichtigsten Land für die militärische Unterstützung der Ukraine. Dabei geht es in dem Krieg in der Ukraine politisch nicht nur um die Freiheit und Selbstständigkeit dieses Landes, sondern um sehr viel mehr, nämlich um die Freiheit und Zukunft des demokratischen Europa. Putin möchte die große territoriale Revision der Ergebnisse des Endes des Kalten Krieges, um so Russlands Vorherrschaft in Europa sicherzustellen und, gründend darauf, Russlands Status als Weltmacht wiederherzustellen. Sein Appetit wird daher mit der Ukraine nicht gestillt sein. Russland stellt seine Wirtschaft auf den Kriegsfall um, und Europa muss das ernst nehmen.

Russland Europa Nato Putin Trump
Von ihm geht eine langfristige militärische Bedrohung für Europa aus: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Foto: AP / Sergei Guneyev

Auch die Bedrohung durch Trump ist keine wirkliche Überraschung, denn dieser hatte in seiner ersten Präsidentschaft gegenüber den Europäern bereits angekündigt, dass er die Nato für überholt halte, dass diese nur noch zulasten Amerikas am Leben erhalten würde und die USA aus ihr austreten würden. Die Reaktion der Europäer seitdem war ein fahrlässiges Weiter-so im bekannten Trott, als wenn sich die Zeiten nicht geändert hätten. Europa wird sich stattdessen auf den schlimmsten anzunehmenden Fall vorbereiten müssen, und zwar im Hier und Jetzt.

Verstärkte Rüstungsanstrengungen

Die EU war mit der Schaffung eines gemeinsamen Marktes und Rechtsraums sehr erfolgreich. Angesichts der imperialen Bedrohung durch Russland und des drohenden US-amerikanischen Rückzuges wird Europa zur Macht werden müssen. Und das heißt zuerst und vor allem verstärkte und koordinierte Rüstungsanstrengungen, um die europäische Verteidigungsbereitschaft und Abschreckungsfähigkeit dramatisch zu erhöhen. In der Vergangenheit war die EU unter den Gesichtspunkten der wirtschaftlichen Modernisierung und Wohlstandsvermehrung eine große Erfolgsgeschichte. Angesichts der Rückkehr des Krieges zur gewaltsamen Verschiebung von Grenzen auf unserem Kontinent wird in den kommenden Jahren oder gar Jahrzehnten die gemeinsame Sicherheit im Zentrum stehen müssen.

Machen wir Europäerinnen und Europäer uns nichts vor: Putin und Trump erzwingen, jeder auf seine Art und doch gemeinsam, einen historisch fundamentalen Paradigmenwechsel in Europa. Wohlstand, wirtschaftliche Modernisierung und soziale Sicherheit bleiben wichtig, aber in Zukunft wird Sicherheit an der Spitze der europäischen Agenda stehen müssen. Bleibt das transatlantische Bündnis nach den US-Wahlen erhalten, so wäre das der beste Fall für den Alten Kontinent, auf dessen Eintritt man sich jedoch nicht verlassen sollte. In jedem denkbaren Fall muss Europa an dem Ausbau seiner Verteidigungsfähigkeit festhalten, denn auf dem europäischen Kontinent wird es langfristig mit einem Nachbarn Russland leben müssen, dem jegliches Vertrauen für eine lange Zeit fehlen und von dem eine langfristige militärische Bedrohung ausgehen wird. Eine erneute Zeit sicherheitspolitischer Naivität darf es für Europa nicht geben. (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 27.2.2024)