Vor einem Jahr dominierte die Zuversicht. Der "David am Dnjepr" hatte sich bis dahin erfolgreich gegen den russischen Goliath zur Wehr gesetzt. Im zweiten Kriegsjahr musste die Ukraine jedoch ernüchtert feststellen, dass die Mühlen des Westens langsam mahlen, zu langsam, gemessen an Frontverläufen und Menschenleben.

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Ein Blick auf die Zerstörung in der Stadt Awdijiwka, aus der sich die ukrainischen Truppen zurückziehen mussten.
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Die Dringlichkeit der Unterstützung der Ukraine machte sie für einzelne Akteure zu einem idealen Faustpfand, um ihre Zustimmung gegen die Durchsetzung eigener Agenden zu handeln. So ist die ungarische Blockadehaltung in der EU bereits notorisch geworden, republikanische Abgeordnete verhindern mit der Forderung nach einem härteren Vorgehen gegen illegale Migration derzeit im US-amerikanischen Kongress die Freigabe eines Hilfspakets. Schwierigkeiten der Anpassung militärischer Produktionskapazitäten an die Kriegsnachfrage taten ihr Übriges, um Lieferungen von Waffen und Munition zu verzögern. Aus der geplanten Frühjahrsoffensive wurde eine Sommeroffensive, und auch die ist gescheitert. Der ukrainische Rückzug aus der Stadt Awdijiwka zum Ende des zweiten Kriegsjahres erscheint symptomatisch.

Selbstbestimmte Ukraine

Der Befund, dass der Krieg aus heutiger Perspektive noch lange dauern wird, ist allgegenwärtig, denn weder für die Ukraine noch für Russland ist er derzeit am Verhandlungstisch zu beenden. Laut neuesten Umfragen von ukrainischen Meinungsforschungsinstituten bleibt für 70 Prozent der Befragten die Befreiung aller von Russland besetzten Gebiete Grundbedingung für Friedensgespräche. Trotz aller Sehnsucht nach Frieden ermöglicht nur ein Sieg gegen Russland den Erhalt einer selbstbestimmten und in europäische Strukturen integrierten Ukraine.

Für Wladimir Putins Russland wiederum wäre es geradezu widersinnig, Friedensverhandlungen anzustreben: auch wenn oft betont wird, dass der bisherige Kriegsverlauf eher die Schwäche als die Stärke Russlands zeigt, muss gerade aus diesem Grund weitergemacht werden, denn ein Ergebnis in der Ukraine, das zumindest propagandistisch als Erfolg dargestellt werden kann, ist essenziell, um Putin weiterhin als starken Mann im Kreml zu halten. Einen Monat vor der russischen Präsidentschaftswahl, bei der Putin als Sieger schon feststeht, läuft "alles nach Plan".

Der Krieg erfüllt seinen Zweck auch als Instrument des internen Machterhalts: aufbauend auf einem quasiideologischen Narrativ eines durch den Westen permanent gedemütigten russischen Volkes, dem nun durch den Aufbau eines nationalistischen "Anti-Russlands" in der Ukraine noch die historischen Wurzeln und jeglicher Sicherheitsanspruch genommen werden, wird Putin zum beinahe mythologischen Retter Russlands, jegliche Opposition gegen ihn ist damit Verrat an der russischen Sache selbst. Der Rückzug der ukrainischen Truppen aus Awdijiwka gilt als Bestätigung des Putin’schen Kurses und russischer militärischer Überlegenheit. Nur zu gerne verweisen russische Medien auf die Schwäche, die Uneinigkeit und die Kriegsmüdigkeit des "kollektiven Westens".

In Gang kommen

Damit schließt sich der Kreis zur Frage nach der europäischen Handlungsfähigkeit. Denn: Wie sich die Situation in der Ukraine in diesem dritten Kriegsjahr weitergestaltet, hängt zu einem wesentlichen Teil an der EU und wie sie ihre "langsam mahlenden Mühlen" in Gang bringen kann. Gerade wenn sie ein Friedensprojekt bleiben will, muss die Union sich der Frage stellen, ob sie Verteidigung kann, ungeachtet des Wahlausgangs bei den Präsidentschaftswahlen in den USA im November. Der Feststellung, dass ein Sieg der Ukraine der effektivste Weg zu Sicherung der europäischen Ordnung ist, um Russland den Appetit auf künftige militärische Auseinandersetzungen mit europäischen Staaten zu nehmen, muss konsequenterweise die Entschlossenheit folgen, selbst alle Maßnahmen zur Gewährleistung der eigenen und der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit zu setzen.

Klare Schritte

Diese Priorisierung der Verteidigungskapazitäten muss auf Jahre erfolgen, und die Entscheidung, ob die EU dies leisten kann und leisten will, ist unaufschiebbar und unabdingbar. Denn das Bekenntnis, "alles tun zu wollen, was notwendig ist", bedeutet nichts, wenn weder klar ist, was "alles" ist, noch ob man es umsetzen kann. Dies beginnt bei Verfahrensregeln, die es nicht länger einzelnen Akteuren erlauben dürfen, die Sicherheit Europas als Geisel für eigene Agenden zu missbrauchen. Und es gilt auch für die Erweiterungspolitik, die die EU richtigerweise als sicherheitspolitisches Instrument wiederentdeckt hat.

Klarere Schritte, Fristen, Indikatoren, konsequentere und nachvollziehbare Reaktionen auf Erfüllung oder Nichtumsetzung der von der EU gesetzten Bedingungen sind notwendig. Nur so kann die Union von der ukrainischen Bevölkerung, die ihr ganzes Vertrauen in eine europäische Zukunft gesetzt hat, weiterhin als verlässlicher Partner wahrgenommen werden. Und zwar in doppelter Hinsicht: in ihrem Kampf gegen die russische Aggression ebenso wie bei der Errichtung einer demokratischen und rechtsstaatlichen Ukraine. (Doris Wydra, 25.2.2024)