Die Politikwissenschafterin Daniela Schwarzer schreibt in ihrem Gastkommentar über die strategischen Herausforderungen für Europa und den vorherrschenden Mangel an Führung und Koordination.

"Worte, Worte, nur Worte", seufzte ein prominenter Teilnehmer der Münchner Sicherheitskonferenz, als Vertreter dreier Mitgliedsstaaten der Europäischen Union über gemeinsame Sicherheitspolitik diskutierten. "China wird die Botschaft bekommen: 'Um die müssen wir uns keine Sorgen machen'", sagte ein anderer über die Signale, die von Bayern ausgingen.

Das Zusammentreffen in München war von einer düsteren Stimmung überschattet. Die Staats- und Regierungschefs scheinen von der Ballung der Krisen und den sich verschärfenden globalen Herausforderungen überwältigt zu sein; viele wirkten schlichtweg erschöpft. Die Nachricht, dass die Ukraine die Stadt Awdijiwka verloren hat, war gewiss nicht förderlich. Die Munitionsvorräte der Ukraine gehen zur Neige, und niemand weiß, ob US-Präsident Joe Biden vor dem Ende seiner Amtszeit ein weiteres Hilfspaket durch den Kongress bringen kann. Unterdessen hat der Tod des inhaftierten russischen Oppositionsführers Alexej Nawalny einmal mehr die Brutalität der Diktatur Wladimir Putins in Russland verdeutlicht.

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Die Stimmung in Europa ist düster: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen.
Foto: AP/Markus Schreiber

Am meisten beunruhigte jedoch die drohende Aussicht auf eine zweite Präsidentschaft von Donald Trump, die die Nato schwächen und die Spannungen mit China verstärken würde. Der Zeitpunkt könnte schlechter nicht sein: Russland versucht womöglich, Atomwaffen im Weltraum zu stationieren, und Chinas Verteidigungshaushalt hat Rekordhöhen erreicht. Die Gespräche auf der Konferenzbühne drehten sich im Wesentlichen darum, die europäischen Verbündeten zu beruhigen (wie jedes Jahr). Auf den Fluren jedoch warnten US-Teilnehmer ihre Freunde, dass sie sich darauf vorbereiten sollten, für sich selbst zu sorgen.

"München hätte der Ort sein können, an dem die europäischen Staats- und Regierungschefs aufstehen und sagen: 'Wenn andere sich zurückziehen, werden wir unsere Bemühungen verstärken.'"

Unglücklicherweise erweisen sich die europäischen Regierungen dieser Aufgabe nicht gewachsen – und das trotz eines großen Landkriegs auf dem Kontinent, der Gefahr eines regionalen Krieges im Nahen Osten, zunehmender Instabilität auf dem westlichen Balkan und einer hybriden Kriegsführung, die tief in die europäischen Gesellschaften hineinreicht. "Ohne Sicherheit ist alles andere nichts", sagte der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz. Wie recht er doch hat.

Noch vor einem Jahr sah die Situation deutlich besser aus. Inspiriert durch den Mut von Präsident Wolodymyr Selenskyj und seinen ukrainischen Landsleuten hatten sich westliche Demokratien geschlossen hinter die Ukrainerinnen und Ukrainer gestellt, als diese in das zweite Jahr des Krieges eintraten. Die militärische und finanzielle Hilfe war in Gang gekommen, und die transatlantische Partnerschaft war so stark wie seit vielen Jahren nicht mehr. Große Hoffnungen wurden auf die erwartete Sommeroffensive gesetzt, die das ukrainische Militär mit westlicher Unterstützung starten würde.

Zu Hause geblieben

Jetzt ist die Stimmung düster, und die strategischen Herausforderungen für Europa nehmen zu. Es muss seine wirtschaftliche Sicherheit angesichts eines selbstbewussteren Chinas stärken, die Beziehungen zu anderen Ländern außerhalb der Nato verbessern und seine eigene Verteidigung ausbauen. Die europäischen Staats- und Regierungschefs brauchen dringend einen Plan, um diese Ziele zu erreichen.

Doch während Beamte der Europäischen Kommission und die Staats- und Regierungschefs kleinerer EU-Mitgliedsstaaten (wie etwa der baltischen Staaten) zielstrebig nach München kamen, waren viele andere abwesend. Vor allem der französische Präsident Emmanuel Macron und der neu gewählte polnische Premierminister Donald Tusk blieben zu Hause. Scholz hätte sie zu einem Dreiertreffen einladen können, an dem drei der größten Verteidigungsinvestoren der EU und Unterstützer der Ukraine teilnehmen. Das hätte ein deutliches Zeichen gesetzt.

Starkes Fundament

Deutschland selbst hat es weit gebracht. Es hat nicht nur einen 100-Milliarden-Euro-Fonds eingerichtet, um das Nato-Ziel für die Verteidigungsausgaben (zwei Prozent des BIP) zu erfüllen, sondern ist auch Europas größter Geber von Hilfen für die Ukraine und das erste Land, das eine dauerhafte Kampfbrigade in Litauen stationiert hat, um die Ostflanke der Nato zu stärken.

Diese Schritte bilden ein starkes Fundament, auf dem man aufbauen kann – wenn es eine effektive Führung gibt. Angenommen einige EU-Staats- und -Regierungschefs wären mit einer abgestimmten Botschaft nach München gekommen, wie die Zusammenarbeit im Verteidigungsbereich vorangebracht werden kann, oder hätten sogar den Vorschlag der Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, unterstützt, den Posten eines Verteidigungskommissars zu schaffen. Dies hätte dazu beitragen können, den Ton im Vorfeld der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni zu ändern. Natürlich hätte von der Leyen als Spitzenkandidatin der Europäischen Volkspartei (EVP) bei den Wahlen auch selbst eine größere und öffentlichere Rolle bei der Festlegung stärkerer europäischer Verteidigungsziele spielen können.

"Warum haben die drei größten europäischen Länder nicht stärker mit ihren Verpflichtungen gegenüber der Ukraine aufgetrumpft?"

Dieser allgemeine Mangel an Führung und Koordination hätte beinahe einige gute Nachrichten der letzten Zeit untergehen lassen. Kurz vor der Münchner Sicherheitskonferenz unterzeichnete die Ukraine neue langfristige Unterstützungsabkommen mit dem Vereinigten Königreich, Deutschland und Frankreich. Doch auch diese Chance wurde nicht genutzt. Warum haben die drei größten europäischen Länder nicht stärker mit ihren Verpflichtungen gegenüber der Ukraine aufgetrumpft? Und warum wurde die Gelegenheit nicht genutzt, um einen konkreten Plan zu entwickeln, wie der dringende Munitionsbedarf der Ukraine gedeckt werden und Russlands Beschaffung von Ausrüstung für seine Truppen unterbrochen werden kann?

München hätte der Ort sein können, an dem die europäischen Staats- und Regierungschefs aufstehen und sagen: "Wenn andere sich zurückziehen, werden wir unsere Bemühungen verstärken." Stattdessen lautete die Botschaft, die man am häufigsten von Europäern und US-Amerikanern gleichermaßen hörte: "Demokratie braucht Zeit." Das stimmt zwar im Prinzip, aber die Ukraine hat keine Zeit für ein derart stumpfes Schwert. Sicherheit, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenwürde stehen allesamt in der Ukraine auf dem Spiel. Wie Selenskyj es ausdrückte: "Diktatoren machen keinen Urlaub. "

Größere Abschreckung

Alles in allem haben die europäischen Staats- und Regierungschefs eine weitere Gelegenheit verpasst zu zeigen, wie sie die europäische Säule der Nato stärken, eine größere Abschreckung auf dem Kontinent aufbauen, ihre Nachbarschaft stabilisieren und eine robuste europäische Verteidigungsindustrie entwickeln wollen – also wie sie sich um ihre eigene Sicherheit kümmern wollen.

Doch Europa steht einem entschlossenen Aggressor gegenüber, der seine Provokationen sicherlich fortsetzen wird. Nur wenn der Westen die Ukraine wirksam unterstützt, wird Putin verstehen, dass er zum Scheitern verurteilt ist. Die Situation erfordert kurzfristiges Handeln und langfristiges Engagement – all dies erfordert einen Mentalitätswandel in Sachen Führung. Die meisten europäischen Bürgerinnen und Bürger wären für eine Änderung des Tons vor den Europawahlen empfänglich. Immerhin sprechen sich laut einer aktuellen Eupinions-Umfrage 87 Prozent für eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik aus.

Die nächste Gelegenheit für die europäischen Staats- und Regierungschefs zu zeigen, dass sie es ernst meinen, wird der Nato-Gipfel im Juli sein. Wenn sich Europa in Sachen Verteidigung nicht zusammenreißt, könnte das Jahr 2024 als das Jahr in Erinnerung bleiben, in dem die Ukraine aufgegeben wurde und das transatlantische Bündnis zerbrach – mit gravierenden Folgen für Europa und die Welt. (Daniela Schwarzer, Übersetzung: Sandra Pontow, Copyright: Project Syndicate, 22.2.2024)