Ein Blick in den Gerichtssaal des IGH.
Wieder geht es vor dem UN-Gericht in Den Haag um den Gazakrieg und Völkermordvorwürfe.
IMAGO/Robin van Lonkhuijsen

Dieser Tage geht es im niederländischen Den Haag wieder um den Nahostkonflikt. Vor rund einem Monat hatte Nicaragua das höchste UN-Gericht angerufen – mit dem Vorwurf, Deutschland unterstütze Israels "Genozid" an der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen, anstatt etwas dagegen zu unternehmen.

Am Montagvormittag startete am Internationalen Gerichtshof (IGH) die erste Anhörung in dem Fall. Nicaragua machte den Anfang und bekam zuerst das Wort. Deutschland wird sich am Dienstag verteidigen. DER STANDARD fasst zusammen, worum es geht.

Frage: Was genau wirft Nicaragua Deutschland vor?

Antwort: Der Kernvorwurf lautet, dass sich Deutschland durch seine Waffenlieferungen an Israel, aber auch durch die Streichung deutscher Mittel für das UN-Palästinenserhilfswerk UNRWA der Beihilfe zum Völkermord durch Israel im Gazastreifen schuldig macht. Nicaragua wirft Deutschland dabei in erster Linie vor, seiner völkerrechtlichen Verpflichtung nicht nachzukommen, alles zu tun, um einen drohenden Völkermord zu verhindern. "Es steht außer Frage, dass Deutschland (...) sich zumindest der ernsten Gefahr eines Völkermords durchaus bewusst war und ist", argumentierten die nicaraguanischen Vertreter am Montag vor dem IGH mit Verweis auf Appelle der deutschen Regierung an Israel, das zivile Leid in Gaza zu lindern.

Frage: Was will das mittelamerikanische Land mit seiner Klage erreichen?

Antwort: Eine Entscheidung in der Streitfrage, sofern sie überhaupt als zulässig erachtet wird, könnte Jahre dauern. Nicaragua strengt aber auch ein Eilverfahren an. Dabei wird darauf gesetzt, dass der IGH, der über die Einhaltung der Genozidkonvention wacht, die Vorwürfe in einem ersten Schritt für plausibel hält und Deutschland vorläufige Maßnahmen auferlegt. So soll Deutschland dazu verpflichtet werden, seine Waffenlieferungen an Israel sofort einzuschränken und die Finanzierung der UNRWA im Gazastreifen wiederaufzunehmen. Ende März hatte Berlin zwar angekündigt, seine Zahlungen an die UNRWA wiederaufzunehmen – jedoch vorerst nur für die Arbeit in Jordanien, Syrien, dem Libanon und im Westjordanland. Über die Zukunft der Hilfsmittel für Gaza werde nach der laufenden Prüfung entschieden, hieß es.

Frage: Wie stehen die Aussichten für Nicaraguas Klage?

Antworten: Das ist schwer zu sagen. Zwar haben beide Staaten die UN-Völkermordkonvention unterzeichnet und sich darin verpflichtet, Taten von Völkermord zu verhindern. Doch keiner der beiden Staaten ist direkt am Krieg beteiligt. Zum Teil wird hier juristisches Neuland betreten, wie auch bisherige Debatten unter Völkerrechtsexperten und eine Reihe von offenen Fragen zeigen. Der IGH hat so eine Klage noch nie verhandelt: Wird das Gericht sie überhaupt für zulässig erachten? Kann Nicaragua in einem Verfahren, an dem Israel gar nicht beteiligt ist, überhaupt von einem Genozid oder einer Genozidgefahr durch Israel sprechen? Und müsste ein Genozid nicht erst bewiesen werden oder Israel eine Partei in dem Verfahren sein, um Deutschlands Rolle zu beurteilen? Aus Sicht des autoritär regierten Nicaragua ist das nicht so. Die nicaraguanischen Anwälte bestehen darauf, dass allein die Gefahr eines Genozids oder von Kriegsverbrechen andere Staaten völkerrechtlich dazu verpflichtet, eine Verhinderung anzustreben.

Frage: Ob Israel einen Völkermord an den Palästinensern begeht, klärt der IGH gerade in einem separaten Verfahren, das von Südafrika angeregt wurde und unter anderem von Nicaragua unterstützt wird. Was haben die beiden Verfahren miteinander zu tun?

Antwort: Südafrika, wie Nicaragua ein starker Verfechter der Rechte der Palästinenser, hat Israel im Dezember vor dem IGH wegen angeblich im Gazakrieg begangener Verstöße gegen die Völkermordkonvention verklagt. Das UN-Gericht hatte im Jänner in einem einstweiligen Entscheid verfügt, dass Israel Schutzmaßnahmen ergreifen müsse, um einen Völkermord zu verhindern. Außerdem erlegten die Richter dem Staat vor allem auf, mehr Versorgung der Bevölkerung mit lebenswichtigen Gütern zuzulassen. Aufgrund der erheblichen Verschlechterung der humanitären Lage kam es Ende März zur zweiten Eilentscheidung und zu neuen Sofortmaßnahmen gegen Israel. Darin forderte der IGH von Israel, mehr Grenzübergänge für längere Zeiträume zu öffnen. Die nicaraguanische Klage gegen Deutschland stützt sich stark auf die südafrikanische Völkermordklage und die bisher vom IGH auferlegten Sofortmaßnahmen. Es ist jedoch offen, ob die bisher erfolgten Eilentscheidungen für weitere Klagen juristisch relevant sind.

Frage: Was ist Völkermord?

Antwort: In der Konvention wird Völkermord definiert als eine Handlung, "die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören". Diese ist schwer nachzuweisen.

Frage: Was sagt Deutschland?

Antwort: Deutschland hat den Vorwürfen bereits klar widersprochen. "Wir werden unsere Rechtsauffassung am Dienstag vor dem IGH darlegen", verkündete das deutsche Auswärtige Amt auf der Plattform X. Man setze sich für das Völkerrecht ein, weise die Vorwürfe "auch deswegen" zurück und wolle diese "im Detail widerlegen". Auch Israel weist jeglichen Verstoß gegen die Völkermordkonvention entschieden zurück und beruft sich auf sein Recht zur Selbstverteidigung nach den Massakern der Hamas und anderer extremistischer Gruppen am 7. Oktober. Die Genozidvorwürfe treffen Israel schwer: Schließlich war der Staat nach dem Zweiten Weltkrieg als Folge des Völkermordes an den Juden durch die Nazis im Dritten Reich gegründet worden.

Frage: Inwiefern unterstützt Deutschland Israel?

Antwort: Für Deutschland gehört die Sicherheit Israels aus diesen historischen Gründen zur Staatsräson. Das Land gehört neben den USA zu den wichtigsten Verbündeten Israels. Die deutsche Bundesregierung hat im vergangenen Jahr Rüstungsexporte im Wert von 326,5 Millionen Euro nach Israel genehmigt – den größten Teil davon nach dem 7. Oktober 2023. Darunter waren 3.000 tragbare Panzerabwehrwaffen sowie 500.000 Schuss Munition für Maschinengewehre, Maschinenpistolen oder andere voll- oder halbautomatische Schusswaffen. Auch innerhalb Deutschlands wächst angesichts der humanitären Not im Gazastreifen der Druck, die Waffenlieferungen zurückzufahren. Erst am Freitag haben deutsche Anwälte im Auftrag von Palästinensern in Gaza mit einem Eilantrag beim Berliner Verwaltungsgericht versucht, die Genehmigung von Kriegswaffenexporten nach Israel zu stoppen. Das ist in Teilen das Gleiche, was Nicaragua vor dem IGH erreichen will.

Frage: Wie geht es weiter?

Antwort: Eine Entscheidung wird in etwa zwei Wochen erwartet. Der IGH soll laut Statut Konflikte zwischen Staaten möglichst friedlich beilegen. Seine Urteile sind in der Regel bindend. Allerdings besitzen die UN-Richter keine Machtmittel, um einen Staat zur Umsetzung zu zwingen. Sie können aber den UN-Sicherheitsrat aufrufen, in der Sache tätig zu werden. (Flora Mory, 8.4.2024)