Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich alle Menschen, Geschlechter und ihre sexuellen Neigungen gleichwertig schätze. In meine Praxis kommen jedoch sehr viele heterosexuelle Menschen, ich beziehe mich hier hauptsächlich auf Erfahrungen aus meiner Praxis. Es gab schon vor knapp einem Jahr einen Blog zum Thema "Wenn Frau keinen Sex mehr will". Heute möchte ich einerseits Frauen ermutigen, ihren höchstpersönlichen Zugang zu Erotik, Lust und Sinnlichkeit, zu Sexualität im weiteren Sinne, neu zu entdecken. Gleichzeit lade ich Männer, die gerne lustvollen Sex mit Frauen haben wollen, ein, bewusster sowohl auf die eigenen sowie auf die Bedürfnisse der Partnerin einzugehen. Raus aus gewohnten Mustern und stummen Übereinkünften, hin zu einer erweiterten Spielwiese der Sinne.

Weibliche Sexualität möchte sich entfalten

Vielleicht ist es "in meiner Bubble" besonders deutlich spürbar, dass sich immer mehr Frauen auch in der Sexualität aus eingelerntem, oft unbefriedigendem Verhalten und dem "gefallen wollen" herauslösen. Immer mehr gestehen sich lustvoller und freier ihre eigenen Bedürfnisse zu und wollen diese auch genussvoll leben. Denn trotz allen Herausforderungen und Mehrfachbelastungen haben sehr, sehr viele Frauen erotische und sexuelle Sehnsüchte und Bedürfnisse, allerdings oft keine Lust auf (nur) das, was bisher gelebt wurde. Was es fast immer vorher braucht, ist ein freudiges, vertrauensvolles Miteinander in der Beziehung. Oder Klarheit, worum es geht beim Daten.

Ein Paar sitze am Boden und trinkt Wein
Ein freudiges und vertrauensvolles Miteinander braucht es fast immer.
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Es sollen hier keine abgelutschten Klischees von Venus und Mars gewälzt werden, dennoch, ja, Frauen und Männer haben oft recht unterschiedliche Herangehensweisen, Bedürfnisse, Erwartungen und Vorstellungen. Also ja, es gibt Geschlechtertendenzen. Auch klar: jeder Mensch tickt anders, ganz unabhängig von Geschlecht, Sozialisierung, Kultur. Wenn jemand anderer anders funktioniert, ist dies keineswegs eine Infragestellung der eigenen Bedürfnisse, es braucht dann einfach mehr gute Verständigung und das bewusste Fördern von prickelndem Miteinander.

Das Schweigen der Männer

Die meisten Menschen reden nicht über ihre persönliche Sexualität, schon gar nicht mit dem Menschen, mit dem sie Sex leben. Ich höre von deutlich mehr Männern als Frauen: "Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen, Sie sind die Erste!" Ich behaupte einfach mal, der Großteil der Menschen in unserer Sozialisierung tappt schweigend und oft recht blind im Nebel herum. Bis er dann halt mal einfach aufhört, der Sex. Oder Sex zu einer Art Leistungsprinzip wird, zum starren Ritual, zur Forderung. Das macht, wie wir wissen, keine Lust. Es macht weder Lust, ständig das Gefühl zu haben, darum bitten zu müssen, noch sich ständig abwehrend verhalten zu müssen. Viele Menschen tun, was sie immer getan haben oder was sie glauben, erfüllen zu müssen. Warum eigentlich immer noch? Hört damit doch endlich auf!

Lust auf Neues?

Nun also wollen immer mehr Frauen sich selbst und ihre erfüllende Sexualität kennen und genießen lernen. Dazu braucht es, wenn es eine heterosexuelle Beziehung ist, natürlich auch neugierige, selbstbewusste und aufgeschlossene Männer, die nicht nur ihre bisher geübten Rituale leben wollen. Denn guter Sex ist ja viel, viel mehr als nur Geschlechtsverkehr!

Viele Frauen in Beziehung, mit denen ich arbeiten darf, wünschen sich keinen neuen Partner, sondern mit ihrem eigenen mehr Leichtigkeit, Spaß und Neugierde. Sie wollen gerne gemeinsam herausfinden, wie und womit Mann, ganz gleich, ob beim ersten gemeinsamen Sex oder nach ein paar gemeinsamen Jahrzehnten, sie selbst zu lustvollen Höhen und sinnlichen Tiefen bringen kann, worauf sie beide eigentlich Lust haben können. Ganz ohne Leistung, sondern Begegnungen und unbeschwerte Möglichkeiten, Raum für individuelle Nähe, ohne klar vorhersehbares Ziel, sowie individuelles Tempo. Das ist kein Auftrag für Männer, jede und jeder kann etwas beitragen, ein Miteinander ist natürlich besonders sinnerfüllend.

Viele Singlefrauen wünschen sich ganz klar einen Mann, mit dem es auch gelingt, Sexualität prickelnd für beide zu leben.

Was bisher geschah ...

Wir leben erstmals in der Geschichte wirtschaftlich unabhängiger voneinander als je zuvor, sind deutlich besser gebildet, und klar wirkt sich auch das auf Selbstwert, Gleichberechtigung und Sexualität aus. Ich erinnere daran, dass erst 1989, also vor 35 Jahren, in Österreich Vergewaltigung in der Ehe als Straftat anerkannt wurde, in Deutschland sogar erst 1997! Oder an ein deutsches Gesetz aus dem Jahr 1966, in dem klar geregelt wurde, dass es "die Pflicht der Frau sei, dem Mann etwas vorzuspielen, wenn er es nicht besser kann und weiß". Zumindest beim Sex unserer Eltern und Großeltern, oft auch noch in unserer eigenen Jugend, gab es also ganz andere Spielregeln und "Verpflichtungen" als heute, das sitzt uns heute noch in den Genen.

Es ist auch noch nicht lange her, da waren manche Frauen "frigide", dabei gibt es das gar nicht. Es gab einerseits viel Angst vor lustvollen, also kraftvollen Frauen und andererseits viel Unwissenheit, was Frauen wirklich Lust bereiten kann. Meist reichen ein paar rasche Küsse, oder ein bisschen Reibung an der Klitorisspitze und dann rascher Geschlechtsverkehr für Frau eben nicht. Das ist wohl auch mit ein Grund, warum es nach wie vor den Orgasm-Gap gibt, der aufzeigt, dass zumindest heterosexuelle Frauen deutlich seltener Höhepunkte erleben, als lesbische Frauen, oder Frauen beim Solo-Sex. Dabei wünschen sich viele Frauen auch Orgasmen mit einem/ihrem Mann und ohne Vibratoren. Ich weiß, es gibt immer mehr Männer, die neugierig sind, was die Frau, mit der sie Sex leben, wirklich möchte, juhu, das wird ein Fest für alle!

Wenn das Leben wieder zu prickeln beginnt

Erregende Sexualität beginnt oft, wo Routine endet. Lust und Freude an der Sexualität sind lernbar. Es ist wirklich nie zu spät, niemand ist je zu alt um Sinnlichkeit, Eros und Begehren zu intensivieren und zu genießen. Setzen Sie selbst erste Schritte, denn wer wartet, ob als Single oder in einer Beziehung, dass "der/die andere sich ändert", oder uns endlich wieder jemand begehrt, vielleicht ein Hormonrausch von selbst einsetzt ... der verpasst vielleicht in der Zwischenzeit ganz viel vom echten Leben.

Anerkennen: Lust und Unlust "brauchen" einander. Wer immer satt ist, kann kaum noch Hunger oder Lust bekommen. Eine Klientin sagte mal über ihre Sexualität: "Es ist, als ob ich mir bisher mit Toastbrot den Magen fülle, nie wirklich Hunger habe. Worauf auch? Auf mehr Toastbrot, also den routinierten Sex, den 'alle anderen' angeblich zweimal die Woche haben? Dabei möchte ich mal wieder richtig hungrig sein … ob auf ein würziges Curry, knackige Früchte oder ein saftiges Steak …"

Wellenlänge, Chemie und blindes Verstehen sind das eine. Oft reicht das, vor allem nonverbal, nicht dauerhaft für wachsende Intensität, Nähe, Vertrauen, sich lebendig gestaltende Sexualität über längere Zeit. Laden Sie ein, in Ihre sinnliche Welt oder reden Sie doch endlich miteinander über ihre höchstpersönliche Erotik und Sexualität. Das gelingt besonders gut, wenn Sie über ihre Wünsche sprechen, positiv und zukunftsorientiert.

Ich habe selbstverständlich mit den Menschen zu tun, die ihre Sexualität verändern, verbessern, kennenlernen möchten und nicht mit den Menschen, die glücklich sind, mit dem, was sie leben. Oft darf ich begleitend erleben, wie wertvoll, verbindend und wohltuend es ist, wenn Menschen herausfinden und leben können, was sie wirklich wollen, wie viel Kraft und Energie gute Sexualität geben kann. (Nicole Siller, 10.5.2024)