Ab 900.000 Unterschriften hätte ein Volksbegehren ein Referendum nach sich ziehen sollen. Das plante die türkis-blaue Regierung 2022 zu beschließen. Im Koalitionspapier von ÖVP und Grünen ist davon keine Rede mehr. Die Grünen plädieren indes für neue Modelle der Bürgerbeteiligung und wollen auf beliebte Volksbegehren hören.

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Beim Thema direkte Demokratie ändert sich unter Türkis-Grün etwas – und zwar, dass sich doch nichts ändert. Die Begriffe "Volksbegehren", "Volksabstimmung" und "Direkte Demokratie" tauchen im 328-seitigen Koalitionspapier der neuen Regierung kein einziges Mal auf.

Die von ÖVP und FPÖ Ende 2017 paktierten Erleichterung für Volksabstimmungen sollten eigentlich 2022 beschlossen werden. Die FPÖ hatte sich in den Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP mit ihrer Forderung nach dem Ausbau der direkten Demokratie auf das Ende der Legislaturperiode vertrösten lassen, Parteichef Heinz-Christian Strache reklamierte das Vorhaben dennoch als Erfolg für sich.

900.000 Unterschriften-Deal

Dabei war das Verhandlungsergebnis zahlenmäßig ohnedies weit von der blauen Vorstellung entfernt: 250.000 Unterschriften für ein Volksbegehren – rund vier Prozent der Wahlberechtigten – hätten laut FPÖ zu einer verbindlichen Volksabstimmung führen sollen. Die unter Sebastian Kurz türkis gewordene ÖVP hatte im Wahlkampf die Hürde selbst bei zehn Prozent angesetzt.

In den türkis-blauen Koalitionsverhandlungen traf man sich dann aber weder in der Mitte noch am Rand, sondern bei rund 14 Prozent, was 900.000 Unterschriften entspräche. Die Frage, ob sich dafür ein Partner im Nationalrat gefunden hätte, der ÖVP und FPÖ die nötige Verfassungsmehrheit besorgt hätte, erwies sich nach dem Ibiza-Video freilich als irrelevant. Die ÖVP verabschiedete sich von ihrem kurzfristigen Liebäugeln mit der direkten Demokratie und verlor im Wahlprogramm 2019 kein Wort mehr darüber.

Kein automatisches Referendum

Womöglich erinnerte man sich bei der ÖVP auch daran, dass ein Volksbegehren die Regierung Kurz I in eine ihrer wenigen Bredouillen gebracht hatte, nämlich als es ums Qualmen ging. 881.692 Bürger unterschrieben 2018 das Don’t-Smoke-Volksbegehren und setzten sich für ein generelles Rauchverbot in der Gastronomie ein. In Pakttreue zur Tschik-affinen FPÖ schmetterten die Türkisen das Volksbegehren im Nationalrat ab, was nicht nur unter Gesundheitsexperten für Kopfschütteln sorgte. Auch in den eigenen Reihen gab es Kritik: Der Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl sprach sich – wie andere ÖVP-Politiker – für eine Volksabstimmung aus. Kaum ein Jahr später trat das Rauchverbot ohne Referendum in Kraft, beschlossen im freien Spiel der Kräfte mit den Stimmen von SPÖ, Neos, Liste Jetzt und ÖVP.

Wenn die türkis-grüne Regierung hält, wird es wohl auch in den kommenden fünf Jahren keine Volksabstimmungen geben, in den Koalitionsgesprächen spielte das Thema keine Rolle.

Die Grünen wollen das Fehlen eines Volksabstimmungsautomatismus dennoch nicht als Absage an die direkte Demokratie interpretiert wissen. "Dass das Thema nicht im Regierungsprogramm drinnensteht, heißt nicht, dass es uns nicht wichtig ist", sagt Ulrike Fischer, die grüne Bereichssprecherin für Bürgerinitiativen und Petitionen, im Gespräch mit dem STANDARD.

Grüne: Volksbegehren umsetzen

In Anspielung auf die Unterschriftenzahl des Don’t-Smoke-Volksbegehrens meint Fischer: "Wenn knapp 900.000 Menschen ein Anliegen unterstützen, dann sollte das auch gesetzliche Folgen haben." Bei solch einer Situation werde die türkis-grüne Regierung ein Volksbegehren umsetzten, auch wenn das nicht im Koalitionspapier festgeschrieben sei. An einem derart breiten Bürgerengagement solle die Politik nicht vorbeiregieren.

Allerdings dürften direktdemokratische Vorhaben nicht dazu dienen, die Grundlage der Demokratie selbst zu untergraben, sagt Fischer. Unter diese Kategorie fällt für sie auch der neue FPÖ-Anlauf, ein Volksbegehren zur Abschaffung der ORF-Gebühren zu initiieren.

Zählt nur das geschriebene Nichts?

Im Wahlprogramm der Grünen wird – im Unterschied zum Regierungsabkommen – auch eine Stärkung alternativer direktdemokratischer Beteiligungsformen als Ziel formuliert. So wollen die Grünen "neue Modelle wie etwa Bürger*innenräte" unterstützen. Bei diesem Modell, das in Vorarlberg schon seit dem Jahr 2006 rege praktiziert wird, werden Bürger per Zufall aus der Bevölkerung ausgewählt. Diese treffen einander, um eine Position zu einem vorgegebenen Thema zu erarbeiten, die dann – allerdings unverbindlich – an die Politik herangetragen wird. Ulrike Fischer kann sich ein derartiges Modell auch auf Bundesebene vorstellen, zumal Vorarlberg ja ein schwarz dominiertes Bundesland sei: "Ich glaube schon, dass wir da mit der ÖVP etwas weiterbringen können, die Bürgerräte sind eine tolle Idee."

Beim Koalitionspartner scheint man jedoch eher der Doktrin "sola scriptura" anzuhängen. Der Parlamentsklub der ÖVP verwies, vom STANDARD zu den Regierungsplänen im Bereich Direkte Demokratie gefragt, auf das Regierungsprogramm, in dem darüber nichts geschrieben steht. In der Parteizentrale war für eine Einschätzung vorerst niemand erreichbar. (Theo Anders, 18.2.2020)