Kurt Remele, Leiter des Instituts für Ethik und Gesellschaftslehre an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz, spricht sich im Gastkommentar für eine ethisch verantwortungsvolle Anwendung von Sterbehilfe aus.

Die Kirche wehrt sich gegen Sterbehilfe.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

In ihrem 2019 erschienenen Werk Death: The End of Self-Improvement setzt sich die US-amerikanische Autorin und Buddhistin Joan Tollifson auf beeindruckende Art und Weise mit Alter und Krankheit, Tod und Sterben auseinander. Sie erzählt, wie sie ihre Mutter bis zu deren Tod pflegte, und berichtet über ihre persönlichen Erkrankungen, die ihr nach Erreichung des 60. Lebensjahres zu schaffen machten, darunter ein Enddarmkrebs, dessen Behandlung sie detailliert beschreibt.

Tollifson outet sich in ihrem Buch als entschiedene Unterstützerin des assistierten Suizids. Sie schreibt: "Wenn man einen langen Prozess vor sich hat, der endlose, unerträgliche Schmerzen oder ein opioidinduziertes halbkomatöses Dasein bewirkt, der regelmäßige epileptische Anfälle und das Erbrechen von Exkrementen und Blut beinhaltet, (...) ist es dann wirklich so schwer zu verstehen, warum jemand sterben will (...) und warum jemand seinen Liebsten ersparen will, diese Art von Leiden mitansehen zu müssen?" Tollifson begreift die Sterbeabsicht unheilbar kranker Menschen als authentischen Ausdruck ihres Mitgefühls mit sich selbst und mit anderen. Man muss diese Interpretation nicht teilen, aber man sollte sie respektieren.

Verantwortungsvoll umgesetzt

Frau Tollifson lebt an der US-amerikanischen Pazifikküste im Bundesstaat Oregon. Dort ist der assistierte Suizid, die Beihilfe zur Selbsttötung, seit 1997 legal. Er ist auf unheilbar kranke Menschen ab dem 18. Lebensjahr beschränkt, die im vollen Besitz ihrer geistigen Kräfte sind und an einer letalen Krankheit leiden, an der sie innerhalb der nächsten sechs Monate sterben werden. Die betroffenen Menschen müssen in der Lage sein, die lebensbeendende Substanz selbst einzunehmen. Ann Jackson, die Geschäftsführerin des Hospizverbandes von Oregon, bewertete die Legalisierung der Beihilfe zur Selbsttötung in einem Expertengutachten wie folgt: "Das Gesetz wurde verantwortungsvoll umgesetzt. Keine einzige der vorhergesagten schlimmen Folgen ist eingetreten."

Pauschales Urteil

Wer dagegen die kirchlichen und theologische Stellungnahmen zum assistierten Suizid in den vergangenen Wochen gelesen hat, konnte feststellen, dass in der katholischen Kirche Österreichs unisono eine Litanei vom Dammbruch angestimmt wurde. Die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofs vom Dezember 2020, der das ausnahmslose Verbot des assistierten Suizids aufhob, ist nach kirchlicher Auffassung nichts anderes als der Anfang einer fortschreitenden "Kultur des Todes", die Würde und Leben der alten, kranken und pflegebedürftigen Menschen bedrohe. Suizidhilfe sei mit dem Bersten eines Staudammes oder einer spiegelglatten schiefen Ebene vergleichbar, die alle in den Tod reiße.

Das Dammbruchargument ist allzu pauschal und unzulässig manipulativ. Es etikettiert einen argumentativ erst zu diskutierenden und klärenden Sachverhalt als a priori inhuman und gefährlich. Der Zeitpunkt, an dem der angebliche Dammbruch eintritt oder eintrat, ist zudem willkürlich gewählt. Mit guten Gründen könnte man die ersten großen Risse in der Staumauer gegen die Beihilfe zur Selbsttötung bereits auf das Jahr 1957 datieren. Unter Anwendung des umstrittenen Moralprinzips der Doppelwirkung erklärte Papst Pius XII. damals, dass es ethisch erlaubt sei, "mithilfe narkotischer Medikamente Schmerz und Bewusstsein auszuschalten (…), auch wenn vorauszusehen ist, dass die Anwendung dieser Mittel das Leben abkürzt".

Strenge Pflicht

Kaum jemand bestreitet, dass die gesetzliche Freigabe der Beihilfe zur Selbsttötung missbraucht werden kann und deshalb eine strenge Pflicht besteht, Missbrauch durch gesetzliche Maßnahmen und ethische Bildung zu verhindern. Der klassische moraltheologische Grundsatz "abusus non tollit usum" gilt trotzdem, auch im Fall der Suizidhilfe: Ein möglicher Missbrauch hebt den ethisch verantwortlichen Gebrauch nicht auf.

Die kirchliche Kritik an der verfassungsgerichtlichen Entscheidung bedient sich gerne der scheinbar evidenten Formel, Menschen wollten nicht durch die Hand eines anderen Menschen sterben, sondern an dessen Hand. Selbstverständlich sind palliativmedizinische Einrichtungen auszubauen. Aber ist es nicht denkbar und zeigt es nicht die Erfahrung, dass manche Menschen beides wollen: eine Hand, die ihnen hilft, sterben zu können, und eine zweite Hand, die sie beim Sterben berührt? Das von theologischer Seite oft zu hörende Argument, schwerkranke Menschen, die diese Option bevorzugten, seien zu keiner autonomen und rational überlegten Entscheidung fähig, sondern effizienzorientierten Manipulationen zum Opfer gefallen, überzeugt nicht.

Ohne Druck

Wenn jemand sich entscheidet, die ausgestreckte Hand hochmotivierter Palliativmedizinerinnen und -pfleger ab einem bestimmten Punkt zurückweisen, sollte er oder sie nicht paternalistisch festgehalten oder gar umklammert werden. Und wer einen solchen Menschen bei dessen Entscheidung besten Wissens und Gewissens unterstützt, sollte keinem Druck ausgesetzt sein, weder dem moraltheologischen Druck der Kirche noch dem strafrechtlich sanktionierenden Druck des Staates. (Kurt Remele, 14.5.2021)