Zivilrechtler Martin Schauer sieht ein "Spannungsverhältnis zwischen der sehr programmatischer Zielbestimmung der Unabhängigkeit und Objektivität, die einfachgesetzlich vielleicht politisch unzureichend umgesetzt ist".

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Wien – Martin Schauer ist Professor für Zivilrecht an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Er hat Grundsatzwerke über Gesellschafts- und Unternehmensrecht verfasst. Und er hat eine andere Sicht auf den ORF und die zuletzt bekannt gewordenen Sideletter zweier Regierungen über ORF-Besetzungen.

"Rechtlich nicht fassbar"

"Einen Vorschlag zu machen ist nicht rechtswidrig", sagt Schauer im Gespräch mit dem STANDARD. Er sieht darin "inhaltliche Koordinierungen", die nicht explizit verboten seien und "rechtlich nicht fassbar".

In lange geheim gehaltenen Sideletter vereinbarten ÖVP und FPÖ 2017 bei ihrer Regierungsbildung eine Budgetfinanzierung statt eine Gebührenfinanzierung für den ORF. Und sie nahmen eine Vereinbarung der Fraktionssprecher von ÖVP und FPÖ im Stiftungsrat in diesen Regierungssideletter auf. Die Vereinbarung ordnete ÖVP und FPÖ Mandate im Stiftungsrat und in einer neuen ORF-Geschäftsführung zu. Und sie listete eine Reihe von "kurzfristigen" Besetzungen für Führungskräfte unter dem Direktorium mit abgekürzten Namen auf, die großteils umgesetzt wurden.

ÖVP-Sideletter mit den Grünen aus dem Jahr 2020 teilten Vorschlagsrechte für – ebenfalls erst auszuschreibende – Mandate in der Geschäftsführung auf. General und zwei Direktoren für die ÖVP, zwei Direktorinnen für die Grünen. Dazu Mandate im Stiftungsrat.

Rechtswidrig, konstatierte Verfassungsrechtler Heinz Mayer im STANDARD-Gastkommentar mit Hinweis auf die Unabhängigkeit des ORF. "Deutlichen Widerspruch zum Geist des Bundesverfassungsgesetzes über die Sicherung der Unabhängigkeit des Rundfunks", stellte auch Rundfunkrechtler Hans Peter Lehofer fest.

"Politische Absichtserklärungen"

"Das sind politische Absichtserklärungen, nicht mehr, und kein Vertrag im rechtlichen Sinn", wendet Zivilrechtler Schauer ein.

Jobs im ORF vom Generaldirektor abwärts sind laut Gesetz öffentlich auszuschreiben und nach fachlicher Qualifikation zu besetzen. Der Stiftungsrat bestelle Geschäftsführer und Direktoren wie der Aufsichtsrat einer AG den Vorstand. Alle seien laut Gesetz weisungsfrei und an keine Aufträge gebunden. Der General allein bestellt die Führungsjobs darunter.

Und wie können sich zwei Fraktionssprecher im Stiftungsrat Managementbesetzungen ausmachen, teils namentlich, obwohl sie teils für die Besetzung nicht zuständig sind? Schauer: "Man kann eine solche Vereinbarung nicht anders verstehen als: Wir schlagen diese Personen vor. Aber natürlich kann sich daraus weder für den Stiftungsrat noch für den Generaldirektor eine Verpflichtung ergeben." Sein Schluss: "Das kann schon deshalb nicht rechtswidrig sein, weil dafür keine Zuständigkeit des Stiftungsrats besteht." Einzelne Mitglieder des Stiftungsrats machten einen Vorschlag, argumentiert er – wie es auch Aufsichtsräte könnten. Der Vorstand wie der ORF-Geschäftsführer entschieden eigenverantwortlich. Schauer: "Einen Vorschlag zu machen ist nicht rechtswidrig."

ORF und Aktiengesellschaft

Der ORF und sein oberstes Organ Stiftungsrat sowie der Generaldirektor seien grundsätzlich wie Aktiengesellschaften mit Aufsichtsräten und Vorstand aufgebaut.

"Professionelles und gesetzeskonformes Handeln der Organe im ORF soll auch dadurch sichergestellt werden, dass sowohl der Generaldirektor als auch der Stiftungsrat hinsichtlich Sorgfaltspflichten und haftungsrechtlicher Verantwortlichkeit denselben Regeln unterliegen wie der Vorstand und der Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft", erklärt Schauer.

Markanter Unterschied zur Aktiengesellschaft: Der öffentlich-rechtliche ORF hat als Stiftung keine Aktionäre und damit keine Hauptversammlung, die einen Aufsichtsrat beschickt. Die Funktion übernehmen größtenteils politische Institutionen wie Bundesregierung, Bundesländer, Parteien.

Noch markanterer Unterschied: Dem öffentlich-rechtlichen Medienhaus und seinen Organen schreibt ein Verfassungsgesetz Unabhängigkeit und Objektivität vor – und verlangt Regelungen darüber in einem einfachen Bundesgesetz.

Das ORF-Gesetz definiert diese Objektivität, Unabhängigkeit und Vielfalt insbesondere für das Programm. Von den Organen des ORF wie Stiftungsrat, Publikumsrat, Generaldirektor und Direktorinnen schließt es seit 2001 Politiker teils bis vier Jahre nach ihrer Funktion aus, Funktionäre und Angestellte von Parteien und Klubs in Nationalrat oder Landtagen oder Gemeinderäten. Laut Gesetz sind diese Stiftungsräte weisungsfrei und unabhängig in ihrer Tätigkeit.

"Zielkonflikt" zwischen Unabhängigkeitsgebot und Umsetzung

Hier sieht Schauer einen "systemimmanenten Zielkonflikt: ein Spannungsverhältnis zwischen dieser sehr programmatischen Zielbestimmung der Unabhängigkeit und Objektivität, die einfachgesetzlich vielleicht politisch unzureichend umgesetzt ist". Ein Patenrezept für Verbesserungen habe er nicht parat.

Gesinnung an der Garderobe

Wer nun also die Kriterien erfülle, entspreche den gesetzlichen Anforderungen von Unabhängigkeit, schließt Schauer. Sein Reality-Check sagt: "Aber niemand mit einem Funken von Realitätssinn wird annehmen, dass Personen, die von entsendungsberechtigten Institutionen bestellt wurden, kein Naheverhältnis zu diesen Institutionen haben. Das wäre völlig unrealistisch. Kein Mensch gibt seine politische Gesinnung an der Garderobe ab, wenn er in die Sitzung des Stiftungsrats geht."

Nationalratsklubs und Freundeskreise

Unabhängigkeit und Weisungsfreiheit legt die Verfassung auch für Abgeordnete etwa zum Nationalrat fest. Und doch gebe es in der Realität den sogenannten Klubzwang innerhalb der Fraktionen. In Vorbesprechungen kommen sie zu einer gemeinsamen Linie für Abstimmungen. "Ohne rechtliche Verbindlichkeit, denn die wäre in der Tat gesetzeswidrig", sagt Schauer. "Das Gleiche geschieht offenbar bei den sogenannten Freundeskreisen im Stiftungsrat des ORF." (Harald Fidler, 24.2.2022)