Helfried Carl, Managing Partner des Innovation in Politics Institute in Wien, schlägt in seinem Gastkommentar eine parlamentarische Enquete vor, die mithilfe von Expertinnen und Experten über Österreichs Sicherheitskonzept diskutiert.

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In Norwegen läuft gerade ein großes Manöver der Nato – der russische Angriff auf die Ukraine führt in vielen Ländern zu Debatten über die eigene Sicherheitspolitik.
Foto: Reuters / Ints Kalnins

Der 24. Februar 2022, so viel steht fest, wird als trauriger Markierungspunkt der sicherheitspolitischen Zeitenwende in Europa in die Geschichte eingehen. Der beispiellose russische Angriffskrieg auf ein Nachbarland der Europäischen Union hat dazu geführt, dass die sicherheitspolitische Debatte in vielen EU-Mitgliedsstaaten in Bewegung gekommen ist.

Finnland und Schweden, deren Souveränität in Fragen der Bündnisfreiheit von Wladimir Putin jüngst explizit infrage gestellt wurde, haben darauf mit einer parteienübergreifenden Debatte über einen Nato-Beitritt reagiert und ihr Verhältnis zur Allianz weiter intensiviert; die Bevölkerung scheint dies laut Umfragen zu goutieren, auch wenn die schwedische Premierministerin kürzlich klargestellt hat, dass sie kurzfristig keinen Beitrittsantrag zur Nato stellen wird.

In Stein gemeißelt?

In Dänemark wurde ebenso parteiübergreifend beschlossen, das bisher in Stein gemeißelte dänische Opt-out in der europäischen Verteidigungspolitik mittels Volksabstimmung zur Disposition zu stellen. Die deutsche Ampelkoalition hat in einer historischen Entscheidung die Lieferung von Kriegsmaterial an die Ukraine beschlossen, ein Programm der EU für Waffenkäufe und -lieferungen zugunsten der Ukraine mitinitiiert und ein 100-Milliarden-Euro-Investitionspaket für die Bundeswehr angekündigt.

Und die irische Neutralität, in vieler Hinsicht der österreichischen recht ähnlich, vor allem auch was das Verhältnis zur gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU betrifft, wird von einer knappen Mehrheit der dortigen Bevölkerung mittlerweile als nicht mehr zeitgemäß angesehen. Irische Experten fordern von ihrer Regierung eine tiefgreifende Debatte anstatt der "vorherrschenden Selbsttäuschung". Dies auch als Folge der der Neutralität geschuldeten Enthaltung beim EU-Beschluss von Waffenlieferungen an die Ukraine, die ja auch Österreich praktiziert hat.

An der sicherheitspolitischen Debatte in Österreich hingegen scheint vorbeigegangen zu sein, dass sich die Welt seit Ende Februar für immer gewandelt hat. Die Stellungnahmen der Parteien sind vorhersehbar ausgefallen. Die Bürgerinnen und Bürger haben sich Besseres verdient. Es ist Zeit für eine tiefgreifende Debatte über die Sicherheitspolitik. Schließlich ist es richtig, dass Österreich mit der Neutralität über Jahrzehnte gut gefahren ist. Es ist aber auch richtig, dass sich die Situation von 1955 und 1989 von jener im Jahr 2022 grundlegend unterscheidet.

Angesichts der zumindest unter der jetzigen russischen Führung anhaltenden Infragestellung des Fundaments der sicherheitspolitischen Architektur in Europa, der schon im Kalten Krieg durch die Helsinki-Schlussakte 1975 garantierten Unverletzlichkeit der Grenzen, sollten wir uns rasch klar werden, wie unsere Neutralität in Zukunft zu interpretieren ist.

Dringliche Frage

Dazu kommt die dringliche Frage, in welche Richtung wir die EU – nicht nur sicherheitspolitisch – weiterentwickeln und welchen Beitrag wir dazu leisten wollen. Die Versailler Erklärung des letztwöchigen Europäischen Rats nimmt eine "stärkere und fähigere EU im Bereich der Sicherheit und Verteidigung" in Aussicht. Schließlich ist die Nato, wie wir seit US-Präsident Donald Trump wissen, auch für ihre europäischen Mitgliedsstaaten nicht automatisch der Garant für die Verteidigung ihrer Interessen. Was aber bedeutet für uns als Neutrale zum Beispiel die zweifelsohne nötige Aufgabe des Prinzips der Einstimmigkeit im Bereich der Außenpolitik? Und wie soll eine diesen Namen verdienende aktive Neutralitätspolitik im Rahmen des von der EU vorgegebenen engen Rahmens tatsächlich aussehen?

Dass es für uns ausreicht, unser verteidigungspolitisches Handeln im Konfliktfall auf Beschlüsse der EU – nicht nur der Uno oder der OSZE – zu gründen, wie es der Bundeskanzler nach dem Versailler Gipfel anklingen hat lassen, ist im Übrigen eine wesentliche Entwicklung in der Interpretation unserer Neutralität. Dies war bei unserem EU-Beitritt noch nicht selbstverständlich. Und welche Lehren sollten wir für unsere nationale Verteidigungsdoktrin aus den Erfahrungen der letzten Kriege ziehen? Was bedeutet ein umfassender Sicherheitsbegriff, der die "human security" in den Vordergrund stellt, aber auch Pandemien, Blackouts und Cybersicherheit mitdenkt, für unser Verteidigungskonzept?

Es scheint vergessen, dass das Bundesheer der einzige namhafte staatliche Akteur war, der vor Covid-19 vor den Gefahren einer weltweiten Pandemie gewarnt hat. Was lernen wir für die Zukunft aus dieser Konsequenzlosigkeit sicherheitspolitischer Einschätzungen? Und nicht zuletzt: Wäre nicht auch die Erhöhung der immer noch beschämend niedrigen Beiträge für die Entwicklungszusammenarbeit hier mitzudenken?

Diskursniveau heben

Wenn wir auf diese Fragen keine guten Antworten finden, müssen wir uns den häufig geäußerten Vorwurf des Trittbrettfahrertums zumindest im Vergleich mit den anderen Nicht-Nato-Staaten in der EU gefallen lassen. Oder liegt es gar an dem Umstand, dass wir von EU-Staaten und der neutralen Schweiz umgeben sind, dass wir glauben, uns der Debatte nicht ernsthaft stellen zu müssen? Eine parlamentarische Enquetekommission, die das Thema ausführlich und mit Expertenhilfe beleuchtet, wäre eine Maßnahme, um das Diskursniveau zu heben.

Es ist in einer Demokratie selbstverständlich, dass die Parteien auch eine wahltaktische Agenda in der Sicherheitspolitik verfolgen. Und die Politik muss am Schluss entscheiden. Aber sie sollte mittlerweile verstanden haben, dass das Dreschen hohler Phrasen in unsicheren Zeiten zu einem bösen Erwachen führen kann. (Helfried Carl, 15.3.2022)