Der ehemalige griechische Finanzminister und Vorsitzende der Partei MeRA25, Yanis Varoufakis, analysiert in seinem Gastkommentar den Ausgang der französischen Wahl – und warum ein Aufatmen fehl am Platz ist.

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Der Wahlsieg von Emmanuel Macron darf eines nicht vergessen lassen: dass 42 Prozent der Französinnen und Franzosen stramm rechts wählten.
Foto: Reuters / Christian Hartmann

Die Wiederwahl des französischen Präsidenten Emmanuel Macron mit einem komfortablen Vorsprung vor einem Gegner, mit dem er eine gegenseitige Abneigung teilt, hätte beinahe eine gewisse gegenseitige Abhängigkeit zwischen ihren politischen Lagern verschleiert. Macron und seine Gegnerin, die stramm rechte Marine Le Pen, mögen einander verabscheuen, aber sie haben eine Art politische Symbiose entwickelt, die entscheidende Einblicke in die aktuelle missliche Lage in Frankreich, Europa und darüber hinaus bietet.

Le Pen gestärkt

Das Schreckgespenst eines Sieges von Le Pen hat eine Tradition aufrechterhalten, die es den Amtsinhabern ermöglicht, in den Élysée-Palast zurückzukehren. Vor 20 Jahren konnte Macrons Amtsvorgänger Jacques Chirac 82 Prozent der Wähler gegen Le Pens Vater, Jean-Marie Le Pen, auf seine Seite ziehen.

Aber dieses Mal war es anders. Im Jahr 2002 war es die Angst vor Jean-Marie Le Pen, die Chirac zum Sieg verhalf. 2022 war es eher eine Zweibahnstraße: Während Le Pen sicherlich dazu beigetragen hat, dass Macron eine klare Mehrheit der Wähler für sich gewinnen konnte, hat dieser auch Le Pen gestärkt. Das Ergebnis spricht für sich: Eine Ultra-Rechte erhielt 42 Prozent der Stimmen. In den letzten fünf Jahren wuchs die Abhängigkeit zwischen Macron und Le Pen, und zwar nicht trotz der gegenseitigen Antipathie der beiden Kontrahenten, sondern – zumindest teilweise – wegen ihr.

Politische Kluft

Chiracs Wiederwahl 2002 basierte auf einer Koalition aus Rechten, der Mitte und der Linken gegen die fremdenfeindliche Ultra-Rechte. Vor fünf Jahren, als er erneut mit der gleichen Bedrohung konfrontiert war, brach Macron mit dem Schema, indem er sich weder als links noch als rechts präsentierte. Das hat funktioniert, nur zu gut: Macrons Mantra "weder links noch rechts" hat das Denken derjenigen infiziert, die ihn am heftigsten bekämpfen.

Junge Menschen, das Prekariat und zunehmend auch die verunsicherten Teile des Proletariats weigern sich, die Präsidentschaftskandidaten nach dem Links-rechts-Schema zu bewerten. Sie sehen ein Frankreich, das von einer fremden Welt des Geldes regiert wird, die sie nicht nur zurückgelassen hat, sondern sie dort aktiv festhält. In ihren Augen verkörpert Macron diese Welt. Für sie besteht die neue politische Kluft zwischen respektablen Politikern, die versprechen, diese Welt zu erhalten, und Außenseitern, die versprechen, sie zu zerstören.

In der Fernsehdebatte vor den Wahlen zwischen den beiden Kandidaten gelang es Macron, sich als Inbegriff des effizienten, kompetenten Verwalters zu präsentieren, der das System versteht und es besser verwalten kann. Aber das beeindruckt die Wähler nicht, die wollen, dass das System gesprengt und nicht besser verwaltet wird.

"Politiker vom Schlage Macrons versagen überall, wenn es darum geht, für den liberalen Rationalismus einzutreten, den sie vorgeben zu vertreten."

Es gibt einen großen Unterschied zwischen der spektrenübergreifenden Koalition, die Chirac unterstützte, und Macrons radikalem Weder-links-noch-rechts-Mantra. Vor 20 Jahren unterstützten linke Wähler einen Politiker der Rechten, um Le Pen aus dem Rennen zu halten. Chirac verstand, dass ihre Stimme von etablierten politischen Kräften wie der Sozialistischen Partei und der Kommunistischen Partei geliehen war, und er regierte so, als ob er einen impliziten Vertrag mit scharfen Kritikern des Establishments geschlossen hätte. Im Gegensatz dazu gelang es Macron 2017, die Parteien der Linken und der Rechten auszuschalten, bevor er das Schreckgespenst Le Pen heraufbeschwor, um zu dominieren.

Nach seinem Einzug in den Élysée-Palast und mit einer absoluten Mehrheit in der Nationalversammlung verfolgte Macron seine Agenda frei von den Verpflichtungen, die Chirac auferlegt worden waren. Eingeschränkt wurde er nur durch die strengen Vorgaben der Finanzwelt-Mächtigen und einer austeritätsorientierten EU, die den Interessen der Wirtschaft verpflichtet war. Innerhalb weniger Jahre gelang es ihm, Paris unternehmensfreundlicher zu machen, die Start-up-Szene zu beleben und die offizielle Arbeitslosenquote zu senken.

Wachsendes Prekariat

Aber das Prekariat wuchs. Viele Wähler sahen ihre Aussichten als Folge einer Politik schwinden, die ihnen als regelrechter Klassenkrieg gegen sie persönlich erschien: Steuergeschenke für die ohnehin schon Superreichen, Deregulierung von Entlassungen, eine regressive CO2-Steuer und die Entschlossenheit, das Renteneintrittsalter in einem Land, in dem die Lebenserwartung armer Männer 13 Jahre niedriger ist als die wohlhabender Männer, deutlich anzuheben.

Diese Realität wurde zur Grundlage der sich gegenseitig verstärkenden Rückkopplung zwischen Macrons und Le Pens politischem Schaffen. Obwohl es keinen Hauch von Absprachen gibt – sie sind gegeneinander eindeutig allergisch –, bildet die Dynamik zwischen ihnen eine politische Sackgasse, die eine neue Art der Kapitalakkumulation für eine neue herrschende Klasse ermöglicht. Macron dient letztlich dieser Klasse, und ihre Herrschaft wird gestärkt, wenn jemand wie Le Pen die offizielle Opposition ist.

"Selbst wenn sie gewinnen, verlieren sie."

Politiker vom Schlage Macrons versagen überall, wenn es darum geht, für den liberalen Rationalismus einzutreten, den sie vorgeben zu vertreten. Sie verstecken sich hinter ihrem "Weder-links-noch-rechts"-Narrativ und unterstützten die irrationale Kombination aus Sparmaßnahmen und Bankenrettungen, die zu zwölf Jahren Stagnation führte und Investitionen in grüne Energie verhinderte.

Die Moral von Macrons Wiederwahl ist, dass in klassengeprägten Gesellschaften die Spaltung zwischen links und rechts unverzichtbar bleibt. Wenn es den Politikern der Mitte gelingt, sie zu verschleiern, geraten sie in eine dynamische Rückkopplungsschleife mit der extremen Rechten, die sie schriller und irrationaler klingen lässt, während sie die extreme Rechte trügerisch sympathischer erscheinen lässt. Selbst wenn sie gewinnen, verlieren sie. (Yanis Varoufakis, Übersetzung: Andreas Hubig, Copyright: Project Syndicate, 27.4.2022)