Philosophin Rebekka Reinhard kritisiert in ihrem Gastkommentar, dass die tradierte Rollenaufteilung immer noch "wie am Schnürchen funktioniert".

Gesellschaftliche Veränderungen in der liberal-kapitalistischen Demokratie sind eine zähe Angelegenheit. Auch, was die Verabschiedung unzeitgemäßer Geschlechterrollen betrifft. Eine Weile schien es so, als brächte die #MeToo-Debatte 2015 das baldige Ende nicht nur von sexualisierter Gewalt und Machtmissbrauch, sondern auch von Ungleichheit. Heute scheint das Ganze als ein weiteres "Frauenthema" in die rosarote Schublade gerutscht zu sein. Warum ist der Wandel so schwer?

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Die meisten gut ausgebildeten Frauen vertreten einen moderaten liberalen Feminismus, sie wollen Emanzipation, Chancen- und Leistungsgerechtigkeit nicht gegen, sondern gemeinsam mit den Männern erreichen. Ihr Ziel: ein Leben, in dem Frau und Mann Pflichten wie Privilegien fair untereinander aufteilen; im Beruf, im Haushalt, bei der "Care-Arbeit". Wie und ob neue Rollenideale Wirklichkeit werden können, ist nie nur Privatsache. Die Gesellschaft mischt kräftig mit. Aus den (sozialen) Medien schallt das Mantra: Frauen können, sollen, müssen alles haben! Familie und Karriere, Ambition und Demut. Leider ist es unmöglich, diesen widersprüchlichen, aber hochsuggestiven Imperativ in die Realität zu übersetzen. Das weiß jede verheiratete Mutter mit Super Woman-Ethos, die nach einem anstrengenden Arbeitstag dem Drang erliegt, schnell noch Hausaufgaben zu kontrollieren, die Wäsche zu machen, Nudeln zu kochen und die Toilette vom Urinstein zu befreien.

Die Frau des dritten Jahrtausends hat "alles" – oder soll es gefälligst haben –, weil sie alles kann. Und wer alles kann, ist auch für alles zuständig! Die Fatalität dieser Logik zeigte sich mit Covid-19. Die Pandemie offenbarte, wie sehr nicht nur unsere Wirtschaft auf Kante genäht ist, sondern auch die Privathaushalte. Die Grenzen exzessiver Wachstums- und Fortschrittsideologie machten sich eindrucksvoll am teilweisen überlastungsbedingten Rückzug von Frauen aus dem Arbeitsmarkt bemerkbar.

"Alle sagen Ja zu Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit. Und alle finden die kostenlose rosarote Allzuständigkeit selbstverständlich. Was tun?"

In prä- wie in postpandemischen Zeiten sind es stets die Frauen, die den Kittel tragen. Den Krankenschwestern-, Putzfrauen-, Toilettenfrauenkittel. Auch wenn Super Woman dies mit einem Business-Outfit kaschiert. Irgendwie steckt sie immer noch in den 1950er-Jahren fest. Viele Männer wollen das ändern. Auch sie sehen, was schiefläuft, wünschen sich mehr (ihrer) Frauen in gesellschaftlichen Machtpositionen, als Entscheiderinnen in Wirtschaft und Politik. Und doch gilt das hellblau-rosarote Gesetz weiterhin. Sobald eine Frau die ihr angestammte "Herd und Kind"-Sphäre verlässt, reißt sie ein Loch ins familiäre Gewebe, das nie dauerhaft von männlichem Servicepersonal gestopft wird. Alle sagen Ja zu Demokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Chancengleichheit. Und alle finden die kostenlose rosarote Allzuständigkeit selbstverständlich. Was tun?

Zwei Kästchen

Wahre Emanzipation hieße, Pflichten und Privilegien zu teilen. Das aber kann nur gelingen, wenn wir unsere Begriffe von "Fortschritt" und "Erfolg" kritisch revidieren. Solange Frauen ihren Super Woman-Fleiß in unbewusster Komplizenschaft mit dem bestehenden System perfektionieren, wird sich wenig ändern. Zwar ist die gesetzliche Gleichstellung von Mann und Frau längst erreicht; zwar erfreuen sich Schlagworte wie "Vielfalt", "Teilhabe" oder "Gender Pay Gap" großer Beliebtheit – aber die tradierte Rollenaufteilung funktioniert wie am Schnürchen. Immer noch presst man die demokratische Menschheit in exakt zwei Kästchen: Mann oder Frau, aktiv oder passiv, schwanger oder produktiv, gebend oder nehmend. Immer noch sind Entscheidungs- wie finanzielle Macht überwiegend in männlichen Händen. Und immer noch scheint man dieser Macht den höchsten gesamtgesellschaftlichen "Wert" zuzumessen. Die "Zeitenwende" des Jahres 2022 sollte Anlass sein, unsere unreflektierten Vorstellungen von Fortschritt und Erfolg auch hinsichtlich des Geschlechterverhältnisses zu überdenken. (Rebekka Reinhard, 8.5.2022)