Klar ist nach dem Entscheid des Verfassungsgerichtshofs: GIS-freie Streamingnutzung ist verfassungswidrig. Unklar ist vorerst, wie der Gesetzgeber das repariert.

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Wer die Möglichkeit hat, ORF-Programme zu nutzen, muss auch Rundfunkgebühr zahlen, ganz gleich, ob zu Hause ein Fernseher steht oder die Inhalte online gestreamt werden. Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks müsse auch dessen Unabhängigkeit absichern. Das hat der Verfassungsgerichtshof vergangene Woche nach einer Beschwerde des ORF entschieden. DER STANDARD hat sechs Kommunikationswissenschafterinnen gefragt, was sie von dieser Entscheidung halten – und was sie für die Zukunft des ORF empfehlen.

Erwartbare Entscheidung

Das Urteil selbst war für die meisten zu erwarten. Leonhard Dobusch von der Universität Innsbruck (er sitzt auch im ZDF-Verwaltungsrat) hofft, dass die Entscheidung nun Druck auf die Regierung mache, die "dringend notwendige Modernisierung des ORF-Gesetzes in Angriff zu nehmen". Für Josef Trappel von der Universität Salzburg kam nur der Zeitpunkt überraschend, er hätte mit keiner Entscheidung vor dem Sommer gerechnet.

Natascha Zeitel-Bank von der Universität Innsbruck sieht es als "Schritt in die richtige Richtung"; der Staat müsse für geeignete Rahmenbedingungen sorgen, damit der ORF "seinen öffentlichen Auftrag als wichtiger demokratischer Pfeiler" erfüllen kann. Petra Herczeg von der Universität Wien bedauert, dass hier Gerichte Entscheidungen treffen müssten, da die Politik nichts unternehme.

Haushaltsabgabe als Modell

Für die zukünftige Finanzierung schlagen die Befragten allesamt vor, sich an Deutschland zu orientieren, wo das Modell einer Haushaltsabgabe bereits erfolgreich erprobt wurde. Auch in der Schweiz sei der Übergang gut gemeistert worden, wirft Trappel ein, dann falle auch "die oft als lästig empfundene Kontrolle durch die GIS" weg.

Herczeg schränkt ein, dass dabei die Möglichkeit einer "sozialen Abfederung" gegeben sein muss, damit einkommensschwache Haushalte nicht vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk ausgeschlossen werden.

Dass damit auch diejenigen bezahlen müssten, die ORF-Programme nicht nutzen, spricht für Trappel nicht gegen eine Haushaltsabgabe. Auch sie würden aus einer gesamtgesellschaftlichen Betrachtung indirekt von den Angeboten des ORF profitieren. Das müsse die Medienpolitik vermitteln.

Rücksicht auf den Wettbewerb

Zeitel-Bank erinnert daran, dass die EU-Kommission darauf achten müsse, dass die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht den Wettbewerb gegenüber anderen Anbietern verzerrt. Auch sie sieht in einer Haushaltsabgabe den richtigen Schritt; in Deutschland habe das Bundesverfassungsgericht bereits 2018 festgestellt, dass eine wohnungsgebundene Abgabe nicht verfassungswidrig sei. Allein die Möglichkeit, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nutzen zu können, genüge.

Eine Finanzierung über das Bundesbudget lehnt Andy Kaltenbrunner vom Medienhaus Wien strikt ab. Auch Matthias Karmasin von der Universität Klagenfurt (und Mitglied des ORF-Publikumsrats) weist auf einen für ihn wesentlichen Aspekt im Urteil des Verfassungsgerichtshofs hin: Es müsse eine Finanzierungsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk geben, in dem die Unparteilichkeit und die politische Distanz im Mittelpunkt stehen. Bei einer Budgetfinanzierung wäre das für ihn nicht gegeben.

Braucht es den ORF?

Die Bedeutung des ORF zweifelt keiner der Kommunikationswissenschafterinnen an. Für Zeitel-Bank braucht es ihn "als unabhängige Kontrollinstanz in einem demokratischen Staat". Besonders gegen "demokratiefeindliche Aktionen" wie Fake News oder Hate-Speech seien Qualitätsmedien nötig, die journalistischen Prinzipien folgen.

Herczeg plädiert für ein Verständnis, dass der öffentliche Rundfunk möglichst für alle da sei. Auch Karmasin betont die Rolle des ORF als "vierte Gewalt".

Es gebe natürlich Einsparungspotenzial im ORF, räumt Kaltenbrunner ein: Doch vieles, was dort falsch laufe, sei das Ergebnis eines jahrzehntelangen Versagens der Medienpolitik.

Was "wünschen" die Wissenschafterinnen dem ORF? Herczeg kritisiert die Formulierung – es gehe nicht um Wünsche, sondern um einen "rationalen Diskurs". Ausgangspunkt: Ein unabhängiger Rundfunk in einem demokratischen Staat sei auch "im Interesse der politischen Akteure und Akteurinnen".

Staatsferne gesucht

Für Dobusch braucht es eine "Stärkung der Staatsferne", das würde auch die journalistische Glaubwürdigkeit steigern. Ganz ähnlich formuliert es Trappel: "Politische Unabhängigkeit bedeutet redaktionelle Freiheit." Karmasin will zunächst wissen: "Was ist denn das Ziel der ganzen Operation?" In Österreich würden medienpolitische Debatten oft so geführt, dass "der Standort den Standpunkt bestimmt". Die Interessen der jeweiligen Akteure würden den politischen Diskurs dominieren und nicht die Frage, wie demokratische Infrastruktur – wie Medien es sind – am besten organisiert werden sollte.

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Social-Media-Präsenz

Die meisten Befragten gehen von einer Abschaffung der Sieben-Tage-Regel in der TVthek sowie mehr Möglichkeiten für Social-Media-Präsenz des ORF aus. Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk müsse sein Publikum auch erreichen können und sich an das veränderte Nutzungsverhalten anpassen, sagt Karmasin. Er empfiehlt zudem eine breitere Nutzungsmöglichkeit des ORF-Archivs für den Schulunterricht oder in der Volkshochschulbildung. Das Archiv sei eines der "wirklichen Assets" des ORF, hier werde österreichische Geschichte gesammelt.

Zeitel-Bank würde sich eine Vernetzung der einzelnen Mediatheken öffentlich-rechtlicher Sender auf europäischer Ebene wünschen.

Die Politik und die ORF-Gremien

Um den politischen Einfluss im ORF zurückzudrängen, fordern die Wissenschafterinnen eine Gremienreform, sowohl des Stiftungs- als auch des Publikumsrates.

Kaltenbrunner schlägt vor, den Stiftungsrat von 35 Mitgliedern auf sechs bis sieben zu verkleinern und stattdessen den Publikumsrat zu vergrößern. Der sollte mehr Kontrollmöglichkeiten bekommen und die Bevölkerung auch realistisch abbilden – derzeit habe beispielsweise kaum ein Mitglied Migrationshintergrund.

Dobusch fände eine auf einem Losverfahren basierende Komponente überlegenswert, ähnlich wie bei einem Schöffengericht.

Die Politik sei nicht gänzlich aus dem ORF zu bringen, sagt Kaltenbrunner: Öffentlicher Rundfunk sei immer "ein Konstrukt, über das wir politisch streiten müssen". Karmasin will Politik – anders interpretiert – nicht ganz aus dem ORF draußen haben: Der ORF müsse sie jedenfalls weiterhin kritisch begleiten und beobachten.

Zeitel-Bank erinnert, wie wenig selbstverständlich Meinungs- und Informationsfreiheit global gesehen sind. Dieses hohe Gut müsse man verteidigen, sagt sie. (Astrid Wenz, 28.7.2022)