Andy Kaltenbrunner wünscht sich einen ORF-Publikumsrat, der eine "echte und vielfältige Vertretung" der Menschen ist.

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Bis Ende 2023 muss die Regierung die Finanzierung des ORF neu regeln. Die bisherige GIS-freie Streaming-Nutzung der ORF-Programme ist laut dem Verfassungsgerichtshof verfassungswidrig. Der langjährige Journalist und Medienexperte Andy Kaltenbrunner hat für den STANDARD seine Ideen für ein reformiertes ORF-Gesetz und alternative Bezahlmodelle für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk erläutert.

STANDARD: Was war Ihre erste Reaktion auf die Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs?

Kaltenbrunner: Es erschien mir ganz logisch. Versuchen wir einen Vergleich: Wenn ein Gesetz eine Straßenmaut für Fahrzeuge mit Benzinmotor vorschreibt und immer mehr Dieselfahrzeuge auf derselben Strecke dann gratis fahren, ist auch plausibel, wenn ein Gericht für Mautpflicht für alle entscheidet. Das sagt aber noch nichts über den Zustand der Straße oder die Höhe der Maut. So verstehe ich die Verfassungsgerichtshof-Entscheidung zum ORF: Wenn es Gebühren bei Nutzung der Programme gibt, dann besteht diese Pflicht unabhängig vom Distributionskanal. Wie viel gezahlt werden soll – und ob der ORF auf einem guten Weg ist, das wäre politisch zu besprechen. Der Verfassungsgerichtshof hat da aber in seinem Erkenntnis durchaus auch inhaltliche Querverweise auf dessen demokratiepolitische und kulturelle Aufgaben gemacht.

"Deutschland hat die Haushaltsabgabe vorgemacht."

STANDARD: Wie soll der ORF Ihrer Meinung nach künftig finanziert werden?

Kaltenbrunner: Ich halte einen Mix aus verpflichtender Zahlung aller Nutzer plus einem kleineren Anteil von Werbefinanzierung in Österreich weiterhin für sinnvoll. Deutschland hat die Haushaltsabgabe vorgemacht. Wenn in Österreich zukünftig die Kultur- und Länderabgaben aus der Gebühr herausgerechnet würden und sich das System mehr als 100 GIS-Kontrollore erspart, wird öffentlicher Rundfunk noch ganz ohne Reformen schon billiger. Was ich strikt ablehne, sind Modelle direkter Finanzierung aus dem Staatshaushalt. Wenn das ORF-Management seine Budgets und damit auch sein Programmangebot zuletzt mit Sebastian Kurz oder Gernot Blümel verhandelt hätte oder aktuell mit Karl Nehammer oder Susanne Raab besprechen müsste, wäre das wohl ein Verfahren zur politischen Selbstverstümmelung.

STANDARD: Gibt es auch Argumente gegen eine Haushaltsabgabe?

Kaltenbrunner: Ja, wenn man aus Prinzip überzeugt ist, dass öffentlicher Rundfunk überflüssig ist. In Deutschland hatten manche gegen die Haushaltsabgabe argumentiert, weil es ihrer Meinung nach ein Recht auf gänzlichen, individuellen Senderverzicht geben müsse, weil es genug gleichwertiges anderes Angebot gibt. Es behaupten ja auch sehr viele User in Standard.at-Foren, dass sie nie ORF-Programme nutzen – keine Website, keinen Hörfunk, keine TV-Nachrichten, keine Sport-Übertragung, keine News in Social Streams am Handy mit dieser Quelle. Der ORF sei also keinesfalls lebenswichtig und vieles im Rundfunk von Privaten besser gemacht.

Mein Argument ist dennoch: Auch wenn ich mich dafür entscheide, meine Kinder ausschließlich in eine selbst bezahlte Privatschule zu schicken, bin ich einverstanden, dass mein Steuergeld für Gratisschulbücher, Schulbusse und Lehrer in öffentlichen Schulen verwendet wird. Öffentlicher Rundfunk ist eine Infrastruktur funktionierender, europäischer Demokratien. Wo er fehlt oder schlecht gemacht ist oder seine Unabhängigkeit nicht gesichert ist, schwächelt auch der gesellschaftliche Diskurs. Schauen wir in die USA oder nach Brasilien oder ganz in die Nähe nach Ungarn.

"Die meisten dieser Probleme sind Ergebnis von Medienpolitikversagen über Jahrzehnte, manche sind Managementfehler."

STANDARD: Braucht es also den ORF?

Kaltenbrunner: Ja, wenn er gut gemacht ist, einen klaren Auftrag hat und seine Unabhängigkeit besser abgesichert ist als derzeit. Der ORF muss dann natürlich immer nachweisen, dass er unser Gebührengeld zweckmäßig und sparsam einsetzt. Da sehen auch wir Wissenschafter immer wieder Theorie-Praxis-Konflikte. Dauerschleifen von US-Serienkonserven im TV sind zum Beispiel schwer mit einem öffentlich-rechtlichen Auftrag erklärbar. Neun große Länderstudios, die gar kein echtes Hyperlokal-Programm auf vielen Kanälen machen, brauchen eigentlich einen neuen Auftrag.

Als Forscher zu Innovation und Digitalisierung wundere ich mich über eine Newsroom-Integration, die sowieso ein Jahrzehnt zu spät kommt und wo seit kurzem Radio-, TV- und Onlineredaktion zwar im selben Zimmer sitzen, aber doch wieder nach Kanälen getrennt Programm planen. Die meisten dieser Probleme sind Ergebnis von Medienpolitikversagen über Jahrzehnte, manche sind Managementfehler. Es ist ja auch schwer, Gebührenzahlung für einen Rundfunk zu argumentieren, der vom Publikum abgekoppelt wird, also etwa durch wesentliche Einschränkung bei Online-Angeboten und De-facto-Verbot von Social-Media-Präsenz. Der ORF braucht aber im Gegenteil viel, viel mehr Allianzen und zehnmal so viel Interaktion mit den Usern, Sehern, Hörern.

STANDARD: Was würden Sie sich von einem neuen ORF-Gesetz wünschen?

Kaltenbrunner: Dass es im 21. Jahrhundert ankommt und öffentlichen Rundfunk nicht über Verbot oder Erlaubnis bestimmter Plattformen regelt, sondern über einen klaren Auftrag zu Diversität und Qualität. Es muss dabei natürlich Einschränkungen geben, um einen dualen Markt zu fördern, und klare ökonomische Grenzziehungen, etwa bei Werbeerlaubnis oder Gebührenhöhe, um den Wettbewerb nicht zu verzerren. Wenn dann die Rahmenbedingungen stimmen, kann der ORF sicher einigen historischen Ballast abwerfen und mit deutlich weniger Budget ein deutlich besseres Angebot machen als derzeit.

Das vernetzte deutsche Programm "Funk" von ARD und ZDF ist vor allem auf Social-Media-Kanälen platziert und erreicht mit 44 Millionen Euro Jahresbudget heute drei Viertel der Deutschen unter 30 Jahren zumindest gelegentlich. Der angeblich für Junge konzipierte Sender ORF 1 ist mit viel höherem Budget von solcher Anteilnahme weit entfernt. Wenn das ORF-Gesetz den medialen Spielraum nicht so vielfältig versteht, wie ihn die Menschen seit langem konvergent nutzen, dann reden wir aber in ein paar Jahren nur noch über den notdürftigen Erhalt eines kleinen Staatsfunks mit Steuermitteln. Vor allem das teure Fernsehen würde rasch Krisenopfer: Bei irgendwann nur noch 20 bis 25 Prozent ORF-Marktanteil im TV mit weiter fallender Tendenz ist eine Gebührenpflicht nicht mehr zu halten. Die wichtigste Änderung in einem ORF-Gesetz wäre aber: Es müssten sich die politischen Strukturbedingungen wesentlich ändern und ganz generell die Governance.

"Das war sehr ungarische Medienpolitik."

STANDARD: Wie kann man die Politik aus dem ORF hinausbringen?

Kaltenbrunner: Die Politik ganz allgemein nie. Öffentlicher Rundfunk ist immer ein Konstrukt, über das wir politisch streiten müssen. Aber die engstirnige Parteipolitik hat im ORF nichts verloren. Ein unvermeidlicher Schritt dazu ist eine große Gremienreform. Höchstens sechs, sieben Stiftungsräte mit hohen Qualifikationen sollten nach Ausschreibung und öffentlichen Hearings in einem transparenten Verfahren ausgewählt werden. Das ist allemal besser als 35, die den Menschen kaum bekannt sind, Unabhängigkeit vorspielen müssen und sich dann in sogenannten Freundeskreisen klandestin treffen, um dort ORF-Entscheidungen zu treffen. Diese Medienpolitik-Komödie angeblicher Unabhängigkeit war immer schon intellektuell unwürdig. Es darf sich keine Koalition mehr in Sidelettern ausmachen können, wer welche Rolle und Position im ORF-Management oder im Stiftungsrat zugewiesen bekommt.

Zusätzlich zu einem solchen effizienten, kleineren Stiftungsrat mit höchster Expertise braucht es einen sehr großen Publikumsrat, der mit mehr Kontrollmöglichkeiten ausgestattet und eine echte, vielfältige Vertretung aller Menschen im Land ist. Jetzt hat zum Beispiel kaum ein Mitglied Migrationshintergrund – in Österreich aber ein Viertel der Menschen. Die Sitzungen, Beratungen, Konferenzen einer neuen Publikumsvertretung wären natürlich öffentlich und gestreamt, und aktuelle ORF-Themen würden in vielen analogen und digitalen Foren diskutiert. Das Auswahlverfahren wäre transparent und eben repräsentativ. Zuletzt haben ja Kanzler und Medienministerin nach Gusto und ohne Scham sich selbst und die Parteifreunde bedient. Das war sehr ungarische Medienpolitik.

STANDARD: Nutzen Sie persönlich ORF-Programme?

Kaltenbrunner: Ich strukturiere gelegentlich noch meinen Tagesablauf altmodisch nach Sendezeiten: "Morgenjournal" oder 9-Uhr-"ZiB" zum Frühstück oder Bürobeginn, die "ZiB 2" linear, wenn es interessante Gäste und Beiträge gibt, entspannt vom Sofa aus. Skirennen sehe ich am Wochenende noch live am großen Schirm. Der meiste ORF erreicht mich aber am Handy. Etwa, weil jemand Beiträge auf Social-Media-Kanälen verlinkt oder via blaue Seite oder via Ö1-App. Ö1 ist als europäische Qualitätsbenchmark eines Kulturradios ein guter Begleiter.

Meinethalben könnte der ORF sein Spielfilmangebot dafür aber jederzeit einstellen. Unlängst habe ich auf gut Glück ORF 2 zur besten Spielfilmzeit am Samstag aufgedreht, da lief verdichtete Volksverblödung mit dem Titel "Narrisch guater Sommer", die wohl nur mit Alkohol und Psychopharmaka zu ertragen ist. Einem nüchternen Forscher fällt danach aber schwer, öffentlichen Rundfunk mit seinem Bildungs-, Informations- und Kulturauftrag zu begründen. Alles in allem liege ich persönlich aber wohl im Trend meine Alterskohorte: Ich war sehr lange ORF-Stammgast. Jetzt machen seine Programme vielleicht noch zehn Prozent meines Medienmenüs aus. Die selektiere ich genau, und sie sollten überall ausgeliefert werden. Einige neue, kreative Würze könnte dazu nicht schaden. Dann zahle ich gerne dafür. (Astrid Wenz, 10.8.2022)