Politikwissenschafter David M. Wineroither schreibt in seinem Gastkommentar über die in der ÖVP laufende Debatte über die EU-Sanktionen gegen Russland und über die "Kriegsmüdigkeit auf Distanz".

Fast immer, fast überall – selbst in den größeren und sicherheitspolitisch exponierten Ländern gilt: Innenpolitik schlägt Außenpolitik! Im militärisch bündnisfreien Österreich erst recht. Hierzulande wird sogar Landespolitik gerne mal als verbrämte Außenpolitik betrieben. Das bedeutet häufig: ein Füllhorn an Halbwahrheiten und Falschinformation, das eifrig an den politischen Rändern ausgeschüttet wird.

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Hohe Gaspreise und Teuerung: Steht man in Österreich tatsächlich geschlossen hinter den EU-Sanktionen gegen Russland? Zwei ÖVP-Landesparteichefs wollen diese kritisch hinterfragt sehen.
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Jüngst zogen führende Vertreter des "Reichs der Mitte" (die ÖVP, ihrem Selbstverständnis nach) aus, um sich – günstig, weil scheinbar opferbefreit – als arbeitsplatzbeschützende Patrioten zu erkennen zu geben. Der Hebel: die Sanktionsskepsis und Zukunftssorgen vieler Bürgerinnen und Bürger. Die Akteure: zwei Landesparteichefs als Zweifelsäer, der eine mit einem Wahltermin noch heuer (Anton Mattle, Tirol), der andere bis 2027 in der Vorbereitungsschleife gefangen (Thomas Stelzer, Oberösterreich).

Fern der Realität

Natürlich werden die im EU-Verbund gegen den Aggressor Russland verhängten Sanktionen in Echtzeit und mit Blick auf erforderliche Anpassungen evaluiert – ein Routinevorgang. Es ist fern der Realität zu behaupten, dass die Sanktionen "uns" mehr schaden als "jenen": Europas Wirtschaft wächst (noch), während Russlands Bruttoinlandsprodukt (BIP) von niedrigem Niveau aus einbricht. Die gegenwärtig hohe Inflation ist eine Folge des Zusammentreffens mehrerer Faktoren: So führt etwa der Rebound nach dem Pandemieknick beziehungsweise das zeitgleiche starke Wirtschaftswachstum in fast allen Ländern des Westens zu einem Austrocknen der Arbeitsmärkte. Die russische Politik und die Verwüstungen in der Ukraine treiben die Rohstoffpreise rund um den Globus zusätzlich in die Höhe. Richtig ist, dass Russland ein an Ressourcen reiches Land ist, welches die folgenschwersten Konsequenzen der Sanktionen eine Zeitlang hintanhalten kann. Die mittel- und langfristigen Aussichten sind katastrophal, und das Land verbraucht seine üppigen Devisenreserven in atemberaubender Geschwindigkeit.

Sanktionen sind nicht mit einer Erfolgsgarantie versehen, doch sie stellen den Einsatz eines effektiven und gelinden Mittels in einem Meer an Verheerungen dar. Warum die große Skepsis? Aktuelle Umfragen signalisieren Polarisierung und beinahe ein Patt in der öffentlichen Wahrnehmung der Sanktionen. Woher kommt diese breite Tendenz zur Kriegsmüdigkeit auf Distanz?

Macht des Westens schwindet

Demokratien führen selten Kriege: Kriege "untereinander" sind beinahe inexistent. Kriege gegen Diktaturen werden regelmäßig geführt, doch die Rate ist auch in diesem Szenario auffällig niedrig: Demokratien erziehen ihre Bevölkerung nicht zuletzt durch wirtschaftliche Wachstums- und politische Stabilitätserfolge beiläufig zu einem Unwillen, die Fährnisse kriegerischer Verwicklung in Kauf zu nehmen.

Die Macht des Westens in der Welt schwindet. Beklagenswert daran ist nur Bestimmtes: dass eine knappe, aber anwachsende Mehrheit der Weltbevölkerung autoritär regiert und unterdrückt wird; dass der Demokratieexport auf dem Wege einer Verbindung von humanitärer und militärischer Intervention unter gegenwärtigen Bedingungen eine gescheiterte Idee ist; dass selbst Wandel durch Handel vielerorts zu hoch gegriffen scheint.

Bedrückend im Inneren sind die hohen Anteile an Demokratieskeptikern und -neutralen in jungen und alten Demokratien. Der EU und ihren Bürgern täten weniger Selbstzweifel gut. Veranlassung zu mehr Selbstvertrauen, die eigene Rolle in der Welt betreffend, gäbe es gründlich: Die USA und die EU sind die Lieblingsfeinde der Autokraten in Moskau, Peking und anderswo, weil sie gerade ob ihres Gegensatzes zur russischen und chinesischen Lehre Erfolgsmodelle von weltgeschichtlicher Bedeutung sind; damit eine unerhörte Provokation, mehr noch aber eine Konkurrenz (China) bzw. Gefahr (Russland) darstellend.

Auch wenn es nicht Ausfluss eines "grand design" ist, findet eine für die meisten Szenarien vorteilhafte Arbeitsteilung statt. Erstens: Die EU beschreibt innerhalb der demokratischen Welt in Summe ein Bremsgewicht zu den USA in deren Phasen militärischer Interventionsfreudigkeit (bis hin zum Bruch des Völkerrechts), während zweitens jene etwa dem ukrainischen Volk im gegenwärtigen Ringen ums nackte Überleben entschieden und entschiedener als diese beisteht.

Einfluss in der Welt

Schließlich krankt es in der EU, also maßgeblich im Rahmen der geteilten Willensbildung in ihren Mitgliedsstaaten, zwar an einer integrierten Außen- und Sicherheitspolitik; eine isolationistische Selbstgenügsamkeit, wie sie in der Geschichte der USA immer wieder anzutreffen war und die auch heute viele Anhänger des Trumpismus herbeiwünschen, ist hingegen nicht zu erwarten. Der demokratische Westen trägt seinem Einfluss in der Welt mit ungleich mehr Verantwortungsbewusstsein Rechnung als jede andere vergleichbare Macht in der Menschheitsgeschichte.

Der imperialistische Überfall auf die Ukraine ist kein Konflikt zwischen Russland und den USA, keiner des Westens gegen Russland; auch kein Konflikt der Kulturen oder Religionen. Es ist ein Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, eingebettet in eine weltweite Frontstellung von Freiheit und Tyrannei. Es mag uns mehrheitlich Friedensgewohnten, Wohlstandsgesättigten und an der Praxis der Demokratie Geschulten irritieren: Hier, im großen Maßstab, sind die Dinge tatsächlich einmal schwarz oder weiß. Als sicherheitspolitisch trittbrettfahrender Kleinstaat keine ausdauernd eindeutige Haltung zu zeigen wäre töricht und eine Schande! (David M. Wineroither, 27.8.2022)