Putins kündigte am Mittwoch eine Teilmobilisierung an.
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"Pravo" (Prag): "Ein Widerspruch nach dem anderen"

"Russland schickt rund 300.000 seiner Söhne zusätzlich in den Krieg gegen die Ukraine. Der eigenen Bevölkerung muss das Land nun erklären, warum dies geschieht. Selbst für ein Regime, das in jeder Hinsicht lügt und freiheitlich denkende Menschen verfolgt, wird das nicht leicht sein. Die Reservisten rücken zu einer Verteidigungsoperation ein, die auf einem fremden Staatsgebiet geführt wird und bisher alle ihre Ziele erreicht haben soll. Es ist ein Widerspruch nach dem anderen. (...) Dennoch bleibt das Bild der sogenannten Spezialoperation in der russischen Öffentlichkeit unverändert. Rund drei Viertel der Menschen befürworten den Krieg, und rund 80 Prozent vertrauen immer noch dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Ein Wechsel an der Macht ist nicht in Sicht – und das in einem Moment, in dem Putin die eigenen Leute zum Schlachter schickt."

"Gazeta Wyborcza" (Warschau): "Von Propaganda umnebelt"

"Die Untertanen des Kremlherrn unterstützen mehrheitlich seinen Krieg – sie sind von Propaganda umnebelt, aber sie hegen auch sehr aggressive Vorwürfe und Hass gegen die westliche Welt. Schöne Fernsehbilder von der Front allerdings betrachtet man dann mit patriotischer Begeisterung, wenn man sich sicher ist, dass sich auf dem Schlachtfeld nicht der eigene Sohn im Kugelhagel krümmt. Wenn aber der Staatschef den Burschen die Perspektive eröffnet, nach ihrem Tod mit einem Orden ausgezeichnet zu werden, dann tippt man schnell solche Fragen in den Computer: 'Wie bricht man sich zu Hause am besten die eigene Hand?' und 'Wie kann man aus Russland ausreisen?'. Und mit der Liebe zum Führer ist es vorbei.

Es wird Zeit, dass Putins Untertanen nüchtern werden und verstehen, dass sie in ihrem schönen, reichen Land viel zu tun haben und mit etwas reich werden könnten, ohne fremdes Eigentum zu zerstören. Vielleicht trägt der Krieg, der jetzt mit dem Einberufungsbefehl an ihre Tür klopft, mit dazu bei, dass sie diese einfache Wahrheit verstehen."

"Tages-Anzeiger" (Zürich): "Tag der Wahrheit naht"

"Die Truppen sollen so schnell wie möglich und ohne große Vorbereitung zum Einsatz kommen und die Offensive aufhalten, welche die Ukraine noch immer voranzutreiben versucht. Schafft Putin die Männer wirklich innert nützlicher Frist gut bewaffnet an die Front, wird die Übermacht erdrückend sein. Für die ukrainische Armee, die nur noch wenig Reservemöglichkeiten haben dürfte, naht der Tag der Wahrheit. (...)

300.000 Mann kann der Kreml nicht mehr aus sozialen, ethnischen oder geografischen Randgruppen rekrutieren. Mit der Teilmobilmachung trägt er den für viele Bürger fernen Ukraine-Krieg mitten in die russische Gesellschaft. Und auch seine Anhänger, die heute vom Sofa aus mehr Härte verlangen vom Kreml, könnten schnell das Lager wechseln, wenn plötzlich sie und ihre Lieben gezwungen werden, in Putins Krieg zu ziehen. Damit droht mit der Mobilmachung nicht nur der Ukraine, sondern auch Russland der Tag der Wahrheit. Und allen voran Putin, der alles auf eine Karte setzt. Und damit auch alles verlieren könnte."

"Neue Zürcher Zeitung": "Nicht blenden lassen"

"Mit dem Entscheid zur Mobilisierung von 300.000 Reservisten und der Vorbereitung einer völkerrechtswidrigen Annexion von vier ukrainischen Provinzen erhöht er den Einsatz im Krieg gegen die Ukraine ganz wesentlich. Dabei handelt es sich jedoch nur vordergründig um eine Demonstration der Stärke. (...)

Von den angeblich 300.000 Reservisten, zusätzlich zu den derzeit eingesetzten schätzungsweise 100.000 Mann, sollte man sich nicht blenden lassen. Die Kampfmoral dieser zwangsverpflichteten Männer dürfte gering sein. Russland verfügt weder über ein effizientes Mobilisierungssystem noch über genügend Ausbilder. Die schlagkräftigsten Armeeverbände sind durch den monatelangen Abnützungskrieg geschwächt, zudem macht sich ein Mangel an Kriegsgerät und Munition bemerkbar. Bis Russland seine ausgezehrten Invasionstruppen regeneriert hat, wird daher einige Zeit vergehen. Vorläufig behalten daher die Ukrainer die Initiative – und sie haben jeden Anreiz, noch vor dem Wintereinbruch weitere Fakten auf dem Schlachtfeld zu schaffen."

"Frankfurter Allgemeine Zeitung": "Arrangement mit Moskau?"

"Im Ringen mit Putin bleibt der Westen nur ein glaubwürdiger Gegner, wenn er der Ukraine tatsächlich weiter zur Seite steht, mindestens im bisherigen Ausmaß. Lässt er sich von Putin nuklear erpressen, dann braucht er das Wort von der regelbasierten Weltordnung, die es zu verteidigen gelte, nicht mehr in den Mund zu nehmen, auch nicht gegenüber allen anderen Diktatoren. Doch nicht zuletzt in Deutschland könnte angesichts Putins Drohung die Versuchung wieder wachsen, auf Kosten der Ukrainer zu einem Arrangement mit Moskau zu kommen, dem sich der so hochtrabende wie falsche Titel 'Land gegen Frieden' (und Gas!) anheften ließe. Solches Appeasement wäre Verrat an den eigenen Werten und Interessen. Aber ist nicht alles besser als ein Atomkrieg? Diese Frage kann man nur mit Ja beantworten."

"De Standaard" (Brüssel): "Goldene Brücke" für "akzeptablen Rückzug"

"Was ist von der nuklearen Drohung zu halten? Für manche ist dies ein Ausdruck der Schwäche, bei der Putin es mit der eigenen Nukleardoktrin nicht so genau nimmt. Andere befürchten, dass es nicht bei einem Bluff bleiben wird. Im Grunde genommen müssen wir zugeben, dass wir es nicht wissen. Daher stellt sich die Frage, inwieweit der Westen weiterhin militärische und logistische Unterstützung leisten kann, ohne dass die nukleare Bedrohung tatsächlich gefährlich wird.

Dieser nukleare Schatten und die Folgen der Energiekrise lassen die bedingungslose Unterstützung der Ukraine in Europa langsam schwinden. Putin bleibt ein mörderischer Kriegsverbrecher. Dennoch sollte eine 'goldene Brücke' in Erwägung gezogen werden, die ihm einen aus seiner Sicht akzeptablen Rückzug bietet. Wenn Friedensgespräche diplomatisch unmöglich bleiben, müssen wir angesichts der Ungewissheit das Schlimmste befürchten." (APA, 22.9.2022)