Im Gastkommentar legt der Jurist und Ökonom Erhard Fürst Argumente für einen möglichen massiven Konjunktureinbruch dar. Die darauffolgende Krise würden Europäerinnen und Europäer nur unter Aufrechterhaltung des demokratisch-politischen Systems durchstehen.

Stehen wir vor einem massiven Wirtschaftsabsturz? Wird die Wirtschaft der Eurozone insgesamt und damit auch Österreichs Wirtschaft 2023 deutlich schrumpfen, das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) also im Vergleich zu heuer niedriger sein? Für dieses Jahr wird noch ein Wachstum in der Größenordnung von drei Prozent erwartet, für nächstes Jahr sind sich die Expertinnen und Experten uneins, was insofern überraschend ist, als es kaum Argumente gibt, die für eine Fortsetzung der guten Konjunktur in den beiden ersten Quartalen dieses Jahres sprechen, außer Russland würde sich besinnen, den Krieg beenden und seine Energielieferungen in vollem Umfang und zu Vorkriegspreisen wiederaufnehmen. Eine eher unwahrscheinliche Perspektive.

Die Ölkrise in den 1970er-Jahren brachte in Österreich für eine kurze Phase auch einen autofreien Wochentag, den man selbst wählen konnte. Das Pickerl wies ihn entsprechend aus.
Austrian Archives / brandstaette

Welche plausiblen Argumente stützen die pessimistische Annahme eines massiven Konjunktureinbruchs im kommenden Jahr?

Die Geschichte

Die Erfahrungen des ersten Ölpreisschocks 1973 mit einer Vervierfachung des Rohölpreises im Zusammenhang mit dem Jom-Kippur-Krieg: Damals kam es in vielen europäischen Ländern zu einem Rückgang des BIP, allerdings erst verzögert im Jahre 1975, nach einem überraschenden kurzen Anziehen der Konjunktur 1974. Ein wesentlicher Grund für diese Verzögerung lag in einem kräftigen, weltweiten Lageraufbau angesichts der erheblichen globalen politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und der erwarteten Preissteigerungen.

Es wäre sehr überraschend, wenn dieser Effekt diesmal nicht mindestens ebenso stark ausfallen würde. Verlässliche und aktuelle Quantifizierungen solcher Lagerveränderungen sind leider nicht verfügbar. Sobald das geplante – höhere – Lagervolumen erreicht ist, brechen die Bestellmengen und in der Folge die Produktionsaktivitäten naturgemäß ein.

Gestiegene Energiepreise

Vor allem energieintensive Unternehmen in Europa leiden unter den dramatisch gestiegenen Energiepreisen, die ihre internationale Konkurrenzfähigkeit beeinträchtigen und die Minderproduktion oder im Extremfall sogar Betriebsschließungen bewirken. Bei den Konsumentinnen und Konsumenten führt eine länger andauernde hohe Inflationsrate zu einer wachstumsmindernden Nachfragekürzung bei Konsumausgaben; spätestens wenn liquide Geldreserven aufgebraucht sind und öffentliche Unterstützungsleistungen auslaufen.

Der Kurs der Notenbanken

Nach der katastrophalen Fehleinschätzung des Inflationsgeschehens im Jahre 2021 haben die meisten Notenbanken ihren geldpolitischen Kurs auf Restriktion und Inflationsbekämpfung gestellt, das heißt, sie reduzieren ihre Wertpapierkäufe und heben die Leitzinsen an. Das erschwert und verteuert die Unternehmens- und Konsumentenfinanzierung und dämpft Nachfrage und Wachstum. Mit höheren Zinsen sind auch Kursverluste festverzinslicher Wertpapiere verbunden, die vor allem bei Finanzmarktakteuren zu erheblichen Wertberichtigungen in den Bilanzen führen können.

Budgetpolitik

Von der Budgetpolitik sind in naher Zukunft kaum weitere nachfragestimulierende Impulse zu erwarten, trotz munterer Zusicherungen der politisch Verantwortlichen. Die Kosten der Pandemie und die Inflationsabgeltungen der jüngsten Zeit lasten noch auf den Budgets. Die Finanzierungskosten für die öffentliche Verschuldung erhöhen sich, die finanziellen Anforderungen an die öffentlichen Haushalte durch die Klima- und Energiewende und eine verstärkte Sicherheitspolitik liegen großteils noch vor uns, und wenn die hier angestellten Überlegungen Gewicht haben, alles an der Schwelle einer Phase der Stagflation.

Globales Umfeld

Auch das globale Umfeld dürfte als Impulsgeber für Wachstum ausfallen. China, in das fast zehn Prozent der deutschen Exporte gehen, pendelt gegenwärtig um einen Wachstumspfad von drei Prozent. Die USA haben zwei Quartale negativen Wachstums hinter sich, für viele Schwellenländer stellen die Stärke der US-Währung und hohe Inflationsraten eine erhebliche Belastung dar. Dazu kommen noch die aktuellen und potenziellen geopolitischen Risiken.

Pessimistische Unternehmen

Last but not least: Die jüngsten Konjunkturumfragen bei Unternehmen zeigen eine beträchtliche Diskrepanz zwischen der Einschätzung der gegenwärtigen (sehr positiv) und der zukünftigen (deutlich pessimistisch) Lagebeurteilung. Pessimismus ist nicht der Humus für Investitionen und Risikoübernahme.

Was können wir als Schlussfolgerung mitnehmen? Wir werden uns für die nächste Zukunft "warm anziehen" müssen, nicht nur wegen der möglichen Heizmaterialknappheit, auch wegen stagflationärer Bedrohung, also fortgesetzt hoher Inflationsraten bei gleichzeitiger Stagnation oder Schrumpfung der Wirtschaft. Man kann guten Gewissens sagen, das schaffen wir; aber nur, wenn wir selbst – zumindest in Europa und den USA – die Funktionsfähigkeit unserer demokratisch-politischen Systeme trotz aufeinanderfolgender Krisen nicht zerstören. Denn der zunehmende Verlust an innerem Zusammenhalt in der EU und den USA schwächt die Handlungsfähigkeit, Resilienz und Krisenfestigkeit des Westens. Sorge bereitet insbesondere auch die Stärkung illiberaler Kräfte in einzelnen Ländern und die damit einhergehende Missachtung internationaler Regelwerke und Institutionen. (Erhard Fürst, 26.9.2022)